André Vladimir Heiz, Mittwoch, 12. Juni 2013

Lenk 2030

1. Figur und Grund

1.1. Vorspiel

 

Lars Klingenberg lädt mich ein, an einem „Creative Camp“

an der Lenk im Berner Oberland teilzunehmen.

Vor annähernd 30 Jahren sass er an der „Schule für Gestaltung Zürich“ mir gegenüber – 

unter einer Schar hellwacher Studierender,

die ich als Zeichenforscher unterrichtete und begleitete.

Gestaltung oder „Gestalterei“ – wie Lars Klingenberg sein Atelier nennt –

löste den herkömmlichen Begriff der Grafik ab.

Politische oder pragmatische Dimensionen der Gestaltung,

freie oder angewandte Blickrichtungen der Visualisierungen,

Leben und Kunst brannten unter den Nägeln.

„Subito“ – die „freie Sicht aufs Mittelmeer“ und exotische Eindrücke

sollten sich in jedem Augenblick am Ende der Langstrasse einstellen.

Nach einem Bier bei Trudi, mit Rolf Weiersmüller,

einem Schweizer Grafiker, der diesen Namen verdient.

 

Netz und Haut haben inzwischen Welt und Bild verändert.

Die Fragen, wie wir als Gestalter und Gestalterin angemessen Zeichen setzen können,

bleiben indes in Zeit und Raum gestellt.

Zeichnenbezeichnenaufzeichnenauszeichnen:

Das Handwerk hat vieles im Sinn. Die Praxis macht es vor.

 

1.2. Am Ball

Lars Klingenberg bittet mich, ein Referat zu halten.

„Grundlagen der Gestaltung“ sind das Thema.

Darüber hinaus wünscht sich Manuela Fischer, dass ich mit einem kritischen Auge

und wohlwollenden Ratschlägen das Entstehen von Visionen unterstütze.

Im wilden Wechsel der einzelnen Arbeitsgruppen von jungen Grafikerinnen und Grafikern,

die wissen wollen, was „Gestalten“ heisst. In der Gegenwart und in der Zukunft.

Vorfreude. Anreise. Heitere Aussichten,

die selbst durch das unwirtliche Wetter bei meiner Ankunft nicht getrübt werden.

 

Mit „Creative Camp“ überschreibt die paritätische Kommission

der schweizerischen Berufsverbände SGD und SGV ihre Ausbildungsoffensive.

Während einer Woche ist Lenk im Simmental das Thema:

Wie wird diese Tourismusregion im Jahre 2030 aussehen?

 

Welche Angebote erhöhen die Attraktivität von Berg und Tal?

 

Welche gestalterischen Massnahmen geben dieser Gegend ein unverkennbares Gesicht?

 

Wodurch kann sie sich von anderen merkbar unterscheiden?

 

Die angehenden Grafikerinnen und Grafiker setzen sich mit Prozessen

der Ideenfindung und Konzeptentwicklung auseinander.

Angereist sind sie aus der ganzen deutschen Schweiz.

An der Lenk, mithin vor Ort, umreissen sie wegweisende und innovative Vorschläge,

die diese typische Berg- und Talgegend  beleben sollen.

Erwartet werden aussergewöhnliche Zukunftsszenarien und überzeugende Lösungen,

die in Teams ausgeheckt und ausgearbeitet werden.

Den Teams stehen so genannte „Coaches“ vor, die als Leiter

ihre beruflichen Erfahrungen und gestalterischen Kompetenzen vermitteln.

Und los geht’s. Die Zukunft steht ins Haus.

 

2. Kreativität hat Methode

2.1. Hand in Hand

Der Stadtplaner und Architekt Timothy Nissen führt in den Reigen

der Kreativitätsmethoden ein.

Aufgezeigt werden die Schwächen und Stärken unterschiedlicher Vorgehensweisen.

Brainstorming, Mindmapping, der von Bob Eberle entwickelte Assoziationslauf

SCAMPER und der Morphologische Kasten kommen – unter anderen – zur Sprache.

Analogien bilden, analysieren und synthetisieren, unterscheiden und entscheiden,

setzen, ersetzen, ergänzen, entwerfen, verwerfen, vom einen zum anderen finden:

Kunststück – Vorstellungen müssen in Darstellungen umgesetzt werden!

Methode“ kommt etymologisch bekanntlich von Weg. Das ist schneller gesagt als getan!

Nicholas Mühlberg – einer der Coaches – hat die Spielregeln der verschiedenen

Ansätze vorbildlich auf Karten zusammengefasst, eine Art „Memory“ als Lehrmittel,

auf das die Studierenden auf ihrem eigenen Weg zurückgreifen können. Schritt für Schritt.

Die Campleitung und die Coaches haben an alles gedacht.

Unter kundiger Leitung haben sie sich bereits im Vorfeld

in Luzern eingestimmt und vorbereitet.

Über vierzig Druckseiten erstreckt sich das Leitbild der Woche;

bis in alle Einzelheiten der Tagesplanung sind die Lernziele ausgewiesen.

Worauf warten wir? Auf besseres Wetter!

Auf gut Glück, den Kuss der Musen oder den Zuspruch des Orakels aus Delphi?

Zündende Ideen müssen Farbe bekennen, Stifte in Griffnähe.

Die Arbeitsgruppen nehmen den Faden der Einfälle auf.

 

In „Mars attacks“ von Tim Burton bringt ein herzzerreissendes Jodeln

den angreifenden Marsbewohnern das Fürchten bei.

Sollten sie noch nicht verstanden haben, was Schweizer Grafik ist,

könnte ich ihnen die Skizzenbücher der Studierenden

oder die Unterlagen für das „Creative Camp“ zeigen.

Die Planung überlässt nichts dem Zufall; die Sorgfalt ist mustergültig.

Im internationalen Vergleich tanzt das sprichwörtlich schweizerische Mittelmass

als selbstverständlicher Standard auf hohem Seil. Atemberaubend!

Verbindlichkeit – der Begriff trifft auf der ganzen Linie zu.

In der Schweiz „in die Lehre zu gehen“ kann auch für Marsbewohner

von besonderem Anreiz sein.

In einem Interview zu seinem neuen Buch „Antifragilität“ drückt es

der amerikanisch-libanesische Autor Nassim Nicholas Taleb so aus:

„Die Stärke der Schweiz liegt darin, dass das Lehrlingswesen Tradition hat.

Handwerker lernen am besten von Handwerkern. Oder nehmen sie das Kochen.

Die Kochkunst wird nicht an einer Universität unterrichtet.

Eine Mahlzeit kann man nicht aufgrund ihrer chemischen Zusammensetzung zubereiten“.

Im Tages Anzeiger vom 28.März 2013

 

2.2. Auf der Höhe

Erprobt und auf die Spitze getrieben werden die Verfahren im Team.

„Kreativitätsmethoden“ dienen letztlich dazu, Vorstellungen und Träume

nicht etwa einem beliebigen Irrlauf zu überlassen, sondern diese systematisch

bei der Hand zu nehmen und einer Blickrichtung unterzuordnen.

Ordnung muss sein. Auch Denken und Träumen haben System.

Die so genannten Gedanken und inneren Bilder sollen Form annehmen,

indem sie veräussert werden. Vorstelllungen gerinnen zu Darstellungen.

Dadurch werden sie sichtbar, fassbar, urbar, beurteilbar.

Moodboards, Packpapier, Skizzenbücher und weitere willkommene Unterlagen

geben den Figuren der Fantasien und Utopien guten Grund.

Stichwörter zeichnen Wegweiser aus. Farbe und Pfeile bringen auf den Punkt.

Gearbeitet wird, darüber gibt es keinen Zweifel.

An Motivation und Intensität fehlt es nicht.

Auch die Ideen scheinen sich am Tiefgang der Intuitionen

und an den Inspirationen der Landschaft zu entzünden:

Fahrende Häuser bringen Künstler-Ateliers an den gewünschten Ort.

 

Auf wechselnden Ebenen geht die Architektur in die Luft.

 

In schwebenden (Seifen-)Blasen wird Literatur zum Hör-Stoff.

Intelligente Materialien passen sich der eigenen Haut und der Umgebung an;

sie bringen die Atmosphäre zum Atmen.

In einem transluzid elastischen Baukörper, der Buckminster Fullers Biomorphie

neues Leben einhaucht, werden Technologien der Zukunft entwickelt.

Jene, die den Sinn aus den Augen verloren haben,

nehmen einen Lebensweg unter die Füsse:

 

Tiefsinnig erreichen sie ungeahnte Höhen, von Burnout keine Rede mehr.

Im Zwielicht von Fels und Wasser auferstehen Gestalten aus der Sagenwelt,

die dem unheimlichen Schicksal eine heimliche Wende entlocken.

In diesem „Sinnental“ werden synästhetische Erfahrungen Wirklichkeit.

Das Berginnere erweist sich als Spiegelbild unerhörter Seelenlandschaften.

Und in einem Mal fällt es dem Wasser ein, gen Himmel zu strömen.

Eine entzauberte Welt will in jedem Augenblick aufs Neue verzaubert werden.

Das alles gelingt, wenn es begabte junge Menschen in Tat umsetzen.

 

Die brachen Ideen werden ausgefeilt und professionell visualisiert.

Die Präsentationen vor einem Gremium von „Lenk Tourismus“ haben Schmiss und Stil.

Das Handwerk lebt; die Augenweide ist mit den Händen zu fassen.

Dreidimensionale Modelle aus Pappe kommen der Zukunft zuvor.

Gewandt ergreifen die Sprecher und Sprecherinnen der Gruppen das Wort.

Alles geht in Minne auf. Zufriedenheit und ein Gran Stolz kommen auf.

Gut gemacht. Der Applaus ist verdient.

Auch jener, der der aufmerksamen Campleitung und den Coaches gilt.

Dass Botschaften und Bilder bewegen, Berge versetzen,

Licht ins Tal bringen, ist für die angehenden Gestalterinnen und Gestalter sonnenklar.

Die Brücke von der Idee bis zur Realisierung ist gebaut, das Lernziel erreicht.

Politiker und die Armada der Bürokraten könnten

bei diesen jungen Gestaltern und Gestalterinnen in die Lehre gehen.

In „Les arbres de connaissances“ weist nämlich Michel Authier nach,

dass Lehren und Lernen ein Prozess gegenseitiger Aneignung ist

bei dem die Rollen zuweilen getauscht werden können. Neuland!

3. WOrt und TRaum

3.1. Dämmerung

Gestaltung wird nicht besser, wenn sie das Schlechtere nicht erkennt.

Gestaltung wird nicht anders, wenn sie am Bisherigen nicht zweifelt

und verzweifelt. Richtig oder falsch? Schön oder hässlich?

Die Frage ist für die ästhetische Domäne von sekundärer Bedeutung.

Denn: formale und funktionale Angemessenheit sollen sachgemäss und sinnstiftend

dem Anliegen dienen. Darum dreht sich alles.

Reden kann skizzieren heissen, wenn es den experimentellen Ausruf nicht scheut.

Aufregung ist anregend: mit einigen Coaches erfinde ich

im Schlepptau der Nacht Welt und Bild neu.

Roland Wohler ist im Hin und Her der Sichtweisen und Standpunkte

ein inspirierender Dialogpartner: unser Wortwechsel kennt keine Schranken.

Gleichwohl kommen wir jeden Abend mit Aristoteles zu einem wegweisenden Schluss.

Träume aus den Augen zu verlieren, legitimiert den Begriff der Realität nicht.

 

„Leidenschaft ist die Bereitschaft zu leiden – und zu wissen wofür“,

schrieb Wolfgang Hildesheimer vor Jahren.

„Denken setzt da ein, wo es auf schmerzhaften Widerstand stösst“, sagt Hannah Arendt.

(Auf dem Gesicht von Barbara Sukowa ist die Zerrissenheit der Denkspur

zu lesen - in einem atemberaubenden Film von Margarethe von Trotta.)

Wir müssen die Begriffe auf der Zunge zergehen lassen oder auf ihren Biss hin überprüfen,

bevor wir sie verwenden. Denn die Währung der Begriffe ist nicht gedeckt,

wenn sie dem unmittelbaren Akt der Wahrnehmung ausgesetzt werden.

Gestaltung nimmt auf den Stand(punkt) der Dinge zwingend Einfluss.

Sich von der Welt ein Bild zu machen, ist eine gestalterische Notwendigkeit.

Vielleicht sollte an dieser Stelle die „Prämissen-Rüttelei“ beginnen,

die Timothy Nissen als eine der Methoden empfiehlt.

 

3.2. Endstation Sehnsucht

Auf und davon, folgen wir dem Rat: Fangen wir unvoreingenommen von vorne an.

Mit etwasetwas“ anfangen –  was wenn dieses „etwas“ etwas Anderes wäre?

Alle Wege führen nach Rom. Diese Wahrheit ist eine Binse! Ist Rom wirklich das Ziel?

Bevor wir den Weg unter die Füsse nehmen, ist die Frage das Ziel.

Einbruch statt Aufbruch, Ausbildung statt Einbildung, Abklärungen statt Aufklärung!

Auch die Verneinung hilft der Kreativität auf den Sprung.

Sie geht von all dem aus, was nicht in Frage kommt!

Herkömmliches in aller Form. Alles was in der Luft liegt. Oder auf der Hand:

Ideen zum Beispiel. Ideen?

Ideen kommen aus der Vergangenheit und setzen sich von ihr ab.

Ideen suchen das Weite, das Weitere. Sind Ideen das Ziel?

Kreativitätsmethoden setzen ein heroisches Ich voraus,

das gefälligst Ideen zu entwickeln hat.

Sie stellen ein erfolgversprechendes Ziel in Aussicht,

bevor Wahrnehmen, Denken und Empfinden zum Zug kommen.

Besteht der Weg in die Zukunft in der beschönigenden Darstellung von Vorstellungen?

Wäre es nicht an der Zeit, die Scheuklappen der Voraussetzungen aufs Spiel zu setzen?

Wahrnehmen, Denken und Empfinden haben immer schon eine Richtung.

Der Ursprung der Veränderung liegt an der Abzweigung.

Die Lösung findet sich häufig im Abseits, im Dunkel, im Dickicht.

Innovation nistet im Fehlen, im Fehler, im Bedürfnis und Bedarf.

Sie verbirgt sich in der Lakune, in einer windgeschützten, lichtdurchfluteten Lagune

in einer Lichtung oder in einer Schlucht, die hier in wenigen Schritten erreicht sind.

Auf andere Gedanken kommen wir mit der Zeit ohne Eile.

Die Musse kann für die Intuition und Inspiration ein Muss sein.

Die Praxis dagegen mag den Kick der Hektik;

unter Zeitdruck fallen die Entscheidungen leichter von der Hand.

Man behaupte nicht, die jungen Menschen hätten diesen Unterschied nicht verstanden!

Kreativitätsmethoden schaffen nicht mehr als Entscheidungs-Grundlagen.

Schliesslich müssen Entscheidungen aber gefällt werden,

für das eine, gegen das andere – oder um mit Kierkegaard zu reden:

im Sinne eines sowohl-als-auch. Entschieden aber wird – das ist ein Muss

Entscheiden ist für uns Gestalterinnen und Gestalter das A und O.

 

3.3. Play it again, Sam

Kein Tag vergeht, ohne dass eine Publikation erscheint,

die uns die Vorteile irrationaler Höhenflüge vor Augen führt und rät,

auf unseren Bauch zu hören.

Rory Sutherlands, Creative Director von Ogilvy One UK

beschwört etwa Behavioral Economics und redet das Ende der Zahlenmenschen herbei.

Das Zurecht-Gerückte muss zuweilen ver-rückt werden – ganz genau!

Kreativitäts-Methoden sind logisch-kausal strukturiert.

Sie suggerieren, damit einfach anzufangen und vorwärts zu machen.

Es wäre ohne Zweifel zukunftsweisend, das Creative Camp um eine Woche zu verlängern,

um auf die beeindruckenden Vorschläge und Realisierungen zurückzukommen.

Und damit noch einmal von vorne anzufangen.

Evaluieren, präzisieren, finalisieren, optimieren,

vorbereiten, zubereiten, nachbereiten:

Kunst kommt von KochenKunst von Reisen, nach innen und aussen!

Die visualisierten Ideen würden damit auf ihre Tauglichkeit hin überprüft.

entsprechend verbessert und verfeinert.

Kohärenz und Konsequenz würden an Bedeutung gewinnen.

Analytischer Spürsinn würde sich in den Dienst der Kreativität stellen.

Der Konkretisierungs- und Realisierungsphase käme die gewünschte Aufmerksamkeit zu.

Formwunsch und Wunschform würden sich bis in alle Einzelheiten entsprechen.

 

Die Methoden, der Kreativität allen Grund zu geben,

können noch so ausgeklügelt und vielversprechend sein,

das Material, das zur Figur wird, ist ebenso ausschlaggebend.

Gemeint sind vornehmlich die Voraussetzungen und Vorstellungen, die uns antreiben,

für eine Problemstellung eine Lösung zu finden.

Drei Schritte vor, zwei Schritte zurück. Theorie öffnet die Augen.

„Theorein“ kommt bekanntlich von Schauen, dem Denken und Wahrnehmen nach.

Seit über vierzig Jahren droht man mir mit einem Praxisbegriff,

der nicht nur im Argen liegt, sondern veraltet anmutet,

weil er durch neue Umstände der Wirklichkeit längst überholt ist.

Augen auf – Schauen ist dem Denken um vieles voraus.

Darf ich an die wegweisenden Publikationen von Rudolf Arnheim erinnern?

 

3.4. Rauchen ist gesund

Wahrscheinlich machen wir alle zu viel und zu viel auf einmal.

Zwischenräume und Lücken haben es schwer sich einzufinden.

Vieles läuft während dieser Woche behände wie am Schnürchen,

ohne dass der Reflexion Atem zugestanden würde.

Kreativität muss damit einer Vorstellung genügen,

bevor sie überhaupt zu einer überraschenden und umwerfenden Darstellung gefunden hat.

Der Zwang zur Einschränkung spiegelt sich in der Beurteilung der Schritte:

Kaum ist ein Lernziel erreicht, müssen Noten den Beweis liefern.

Warum werden „Kreativitätsmethoden“ geprüft, wo sie in der Entwicklung der Konzepte

den Nachweis ihrer Anwendung praktisch bereits erbracht haben?

Ich gebe unumwunden zu, dass für mich Formulare das Zeichen

einer unmittelbaren Bedrohung sind.

Der Traum wird zum Trauma; Widerstand tut Not.

Im Begriff Verwaltung schwingt für mich die Gewalt immer mit.*

Wenn sich der Humor verflüchtigt, ist die Leuchtkraft der Intelligenz beschattet.

Wenn der agilen Intelligenz der Atem ausgeht, wird jedes Formular ausgefüllt,

weil der Widerstand mit Auflehnung verwechselt wird.

Nein zu sagen kann eine Bejahung sein! Bert Brecht machte Entwürfe dazu.*

Der spontane Humor kommt während dieser Woche leider auch einigen Coaches abhanden,

weil ein Ereignis das andere jagt. Sie müssen, sagen sie. Wer sagt das?**

Sie vertrauen selbst nicht dem Fangnetz der verlässlichen Vorbereitungen.

Und lassen der kreativen Entwicklung der Dinge ihren Lauf nicht.

"Loslassen!" Das Zauberwort, das in der deutschen Schweiz häufig zu vernehmen ist,

müsste ebenfalls zur Prämissen-Rüttelei gehören.

Was kann schon passieren? Keine Angst! Auch durch das Feuer kommt man heil.

War das nicht ein verordnetes Lernziel?

Ich gebe zu, ich bin im Vorteil – ich geniesse das Privileg des Beobachter-Standpunktes!

 

Menschen verdienen Geduld; Bildung entsagt der Eile.

Erotik ist mit Genauigkeit gleichbedeutend.

Quantifizierungen sind kein probates Mittel der Qualitätssicherung!

Nicht alles lässt sich messen. Die Zukunft ist nicht gestern.

Das gilt allein schon für die Qualität der Begegnungen und Gespräche.

Wenn ich draussen rauche, setzen sich junge Menschen an meinen Tisch.

Sie sind fragend, fordernd, forschend – und suchen ein Gegenüber:

Sie wollen es wissen – wenn das keine gute Voraussetzung ist!

Kommen die Wörter „Gesicht“, „Augenblick“ und „Gegenüber“ im Lehrplan vor?

 

 

Wird es im Jahre 2030 noch ein Creative Camp an der Lenk geben?

Werden wir noch an Ideen glauben?

Werden sich die inzwischen erfolgreichen Gestalterinnen und Gestalter

hierher zurückziehen, um neue Konzepte auszuarbeiten,

Welt und Bild wie das verlorene Paradies neu zu erfinden?

Die Kulisse der Berge vor Augen, das Rauschen des Wassers im Ohr?

3.5. Schlag auf Schlag

Nomen est omen: KUSPO und nicht SPOKU heisst das Gebäude,

in dem wir untergebracht sind. Es ist die Realisierung eines hirnrissigen Traums,

der nicht hält, was er verspricht: wir lieben uns alle unter einem Dach

und machen alle ein-und dasselbe! Das ist in der Tat keine gute Idee.

Im Nachhinein wird verständlich, weshalb die Coaches bereits am Vortag angereist sind.

Umsichtig verwandeln sie die Räume in Ateliers, sie bereiten Tafeln vor und Unterlagen aus.

Für jede und jeden der Lehrlinge liegt ein Skizzenbuch auf.

Wenn das kein Zeichen der Zuneigung ist!

Die so genannte Kultur muss diesem Ort buchstäblich aufgedrängt werden.

Zu eindeutig sind die architektonischen Gegebenheiten und Symbole dem Sport geschuldet.

Gegen die heilige Kuh des Sports anzureden, den Sport an jenen Platz zu verweisen,

der ihm gebührt, ist in diesen Räumen und Wänden aussichtslos.

Kultur und Gestaltung sind auf Anhieb auf die hinteren Ränge verbannt.

Im Tanz mit Serifen, Umbruch, Fahnen und Flattersatz,

im Seitenwechsel von Wort zu Bild, im Einwurf der Informationen aus dem Corner,

mit der Vorhand von openleft zu save sind der gestalterischen Praxis der sportliche Einsatz

und der spielerische Eifer nicht abzusprechen.

Die Nuance im Übergang zur kulturellen und existentiellen Bedeutung

von Gestaltung ist eine berechtigte Differenzbehauptung.

Gestaltung ist etwas anderes – als Beruf und Berufung

ist an diesem Unterschied entschieden festzuhalten, komme was wolle.

Die sportliche Zuschreibung „Coaches“ ist auf dem richtigen Weg.

Um aber aus dem Quellfluss der staatlichen Förderung zu schöpfen,

die sich über jeden provinziell bedeutungslosen Kopfball ergiesst,

sind die Coaches wahrscheinlich zu milde, zu selbstgenügsam,

zu wenig kämpferisch – oder zu wenig korrupt.

Kreativitätsmethoden, ich gebe zu, spielen nicht mit gezinkten Karten.

Wie der legendäre Theoretiker Bazon Brock einst sagte,

sind Design und Grafik aber keine Kunst 2. Klasse.

Und noch weniger – ich schicke nach – eine Sportart in der dritten Liga.

Wahrscheinlich wird an der Lenk im Jahre 2030 ein Museum eröffnet,

das den herausragenden Qualitäten der Schweizer Gestaltung gewidmet ist,

falls die Wörter „Bau“ und „Bewilligung“ bis dann auf einem Formular noch vorkommen.

 

 

 

* Bert Brecht, Geschichten vom Herrn Keuner, Frankfurt am Main 1948/2006.

** Bert Brecht, Der Jasager und Der Neinsager: Vorlagen, Fassungen und Materialien,

Frankfurt am Main 1999.

 

Erbauliche Lektüren zur Kreativität, den Mäandern von Empfinden und Denken nach:

- Paul Feyerabend, Wider den Methodenzwang, Frankfurt am Main 1976.

- Marvin Minsky, Mentopolis, Stuttgart 1990.

- Gerd Gigerenzer, Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft, München 2013.

- Daniel Kahnemann, Schnelles Denken, langsames Denken, München 2012.

- Der Musiker Brian Eno hat in Zusammenarbeit mit dem Künstler Peter Schmidt

„The oblique strategies“ – ein Denkkasten der besonderen Art – entwickelt.

Er ist online einzusehen.

 

Das Bildessay stammt von Rolf Zöllig, Gestalter - mit einem herzlichen Dank.