André Vladimir Heiz, Samstag, 9. März 2013

Abhängigkeit in aller Form

Im Augenblick

 

 

 

1. Falsch oder richtig

In seinen „Minima Moralia“ schreibt Theodor W. Adorno

als „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“:

„Es gibt kein richtiges Leben im falschen“.

Der Satz beschliesst den 18. Abschnitt, der mit „Asyl für Obdachlose“ überschrieben ist.

Nichts daran ist überheblich, sind mit dem Leben auch eher die Umstände gemeint.

„Das Haus ist vergangen“ – bleibt nur dessen Ursprung: l’abri, die camera obscura,

die vorübergehende Unterkunft und Einkehr.

Georg Samsa alias Franz Kafka verbirgt sich schamhaft in seinem Zimmer.

Fra Angelico stattet die Zellen seiner Brüder in San Marco zu Florenz

mit stimmigen Fresken aus, die zur Konzeptkunst avant la lettre zählen.

Ein eigenes Zimmer zu haben, gehört zu den Errungenschaften

der Ich-Werdung, die sich im Selbst behauptet.

Homepage ist eine Metapher, die mit einem Anwesen nichts gemein hat.

Aber mit der „Washeit“ ist es ohnehin eine befremdende Sache,

die im Kern nie ganz erfasst wird, auch wenn Philosophen ihrer habhaft werden wollen.

 

 

2. Im Vergleich

Falsch von richtig unterscheiden zu können, setzt Vergleichbarkeit voraus.

Wie aber soll gelebter von nicht gelebtem Lauf unterschieden werden?

Meint es das Leben gut oder schlecht mit einem, ungeachtet der eigenen Meinung?

Welche Kompetenz befähigt uns anzunehmen,

dass ein richtiges Leben (nicht etwa) dem falschen zugrundeliegt,

sondern als parallele Sphäre angelegt und fassbar bleibt.

Und wo wäre denn dieses Andere anzusiedeln und zu suchen?

In der Gleichzeitigkeit blitzt ein Anspruch auf, nicht nur mit dem Schicksal zu hadern,

sondern im Vergleich da-zu verfügbare Alternativen zu vermuten.

Das einfache Leben, so es einfach zu haben wäre, bekommt da-durch allerhand ab.

Reduced to the max! Komplexität auf ein erträgliches Mass einzubinden,

geschieht in der Umsetzung nicht von sich aus, mir nichts, dir nichts.

Gestalterinnen und Gestalter wissen, was das bedeutet: Handwerk.

 

Sich über jede Kleinigkeit aufzuhalten und der ununterbrochenen Empörung zu frönen,

muss zwingend davon ausgehen, dem Richtigen das Wort zu reden.

Selten fühlten sich so viele Menschen befähigt, es von Fall zu Fall besser zu wissen!

In der Tat: weniger für sich selbst als für alle Anderen im Überhaupt und Eigentlichen.

Selten war die Lehre so durchgängig, dass sich das Richtige – und erst im Nachhinein –

gemessen am Falschen im Kommentar erfindet. Und darin bestätigt.

 

 

3.Ursprung

Kreativität – so es sie gibt – beginnt immer mit einer Beobachtung, einem Befund,

einer Kritik oder aus lauter Verzweiflung.

Wer sich (selbst)zufrieden ergibt, sollte besser alles so sein lassen, wie es ist.

Und sich dazu auch nicht äussern. Das Wort ist nicht die Sache.

Verzweiflung als Steigerungsform des Zweifels

kommt zur Einsicht in die Notwendigkeit zu handeln.

Da-durch stellt die Erkenntnis das Andere in Aussicht

Da-mit ist der Ursprung der Gestaltung verortet.

Jede Gestaltung, die diese Bezeichnung in Anspruch nimmt,

beginnt mit dem entscheidenden Anlass, alles anders machen zu wollen.

Oder zumindest besser. Oder ganz einfach gut.

 

Fatal ist es, Vorstellungen mit Darstellungen zu verwechseln.

Sie gehen selten in Minne auf. Der Unterschied ist nicht zu tilgen.

Die gestalterische Intelligenz zeichnet sich dadurch aus,

dass sie diesen Unterschied immer vor Augen hat, blinder Fleck hin oder her.

Hier die Vorstellung – dort die Darstellung.

Darstellungen können Vorstellungen überflügeln.

Vorstellungen mögen unerreicht bleiben; keine Darstellung tröstet darüber hinweg.

Darum lebe ich nun als Nomade, hier oder dort.

Der Unterschied bleibt auf der Strecke.

Ich habe keine Bleibe mehr. Heimatlos trifft zu.

 

Die Exerzitien im steten Unterwegs verlangen eine radikale Entwöhnung

von hehren Vorstellungen, die sich an Darstellungen übernehmen.

Jede Ankunft ist eine Begegnung mit der brachen Realität, die als solche eine Gestalt hat.

Zugegebenermassen unterscheidet sich diese durch die Form.

Diese – so scheint mir – setzt die Frage nach dem richtigen Leben

durch vorhandene Tatsachen ausser Gefecht.

Äusserst heilsam ist die Einsicht, dass jeder Kommentar da-rüber bedeutungslos ist,

weil es nicht zu meinem gestalterischen Einflussbereich gehört,

es an Ort und vor Ort besser zu machen. Gut genügt.

Würde ist eine Frage der Form. Und nicht des Urteils.

Das kritische Bewusstsein ist fehl am Platz:

form follows function gehört zum Anstand. In einem Hotel.

 

Nichts ist verfänglicher (und entlarvender) als Mitmenschen zu erzählen,

ich lebe nun – nur noch – in Hotels.

Sie stellen sich den Ausbruch der vollendeten Freiheit vor.

Ich behaupte das Gegenteil: es ist die Schule der Demut.

Form entsteht im Einblick in die Abhängigkeit.

Abhängig-sein-von heisst verbunden-sein-mit

und gibt unumwunden das Prinzip der Beziehung zu!

Freiheit ist kein Grund, der sich zum Gestalten einer Figur eignet:

Gestaltung geht aus dem Umgang mit Abhängigkeiten und Anhänglichkeiten hervor.

Freiheit kommt in der Wahl der Alternativen dem gestalterischen Ereignis zuvor.

Jede Berührung ist Bekenntnis zur Form.

Jede Beobachtung ist Erkenntnis über und durch die Form.

 

Ich bin in jedem Augenblick abhängig:

- vom Lichteinfall,

- von meinen Grund-Einstellungen,

- von meinen Eindrücken und Ausdrücken,

- von den Formen, die meine Vorstellungen in Darstellungen unterbringen,

- von der Wahrnehmung und Aufmerksamkeit anderer Menschen,

- von der Magie des unmittelbaren Gelingens.

- ...

Wo Gestaltung endet, die Idealen der Freiheit nacheifert, ist augenfällig.

Eine Matratze ist eine Liege, die ohne metaphysisches Dunkel und Dünkel auskommt.

Im Schlaf gibt es keine falschen und richtigen Träume.

 

4. Fluchtpunkt

Die zehnjährige Zuwendung zu meinem Buchprojekt

„Grundlagen der Gestaltung in vier Bänden“ ist

von meinem Ausmass an Verzweiflung und Leidenschaft geprägt,

dass der Unterschied zwischen Leben und Umstand,

Leben und Handwerk, Denken und Tun auf Zeit aufgehoben ist.

Drastischer: es gibt kein Leben an sich und... dann und dann!

Das Leben ist nicht die Voraussetzung für logisch-kausale Fingerübungen.

Die Geworfenheit ins Da-Sein ist Sache der Form.

Das Leben im Hotel ist damit eindeutig ein Hotelleben.

Und damit rein und gar nichts anderes.

Die Form prägt das Leben und, falls es ihn gäbe, den Sinn.

Gestaltung geht immer von den Bedingungen aus!

 

Meine Habe ist auf ein trägliches Mass reduziert. Die Möglichkeiten auch.

Was gibt es in einem Hotelzimmer schon zu tun?

Genau das, was ich zu tun habe: Das Eine um das Andere.

Die Umgebung mag zu touristischem Staunen und Entdecken verführen.

Der Alltag indes verlangt eine augenblickliche Angewöhnung:

da-bei sind die Augen auf ein Du gerichtet, das mich morgen vielleicht wiedererkennt.

Und weiss, welche Zigaretten ich rauche.

Bibliotheken sind in Hotels eher selten.

Was aber brauche ich mehr als ein Buch, bei dem ich wirklich verweile?

Der Geist, so es ihn gibt, will ungehalten ausschwärmen.

So kommt mir zwar vieles in den Sinn,

aber vielleicht gehört es zur Zukunft der Gegenwart das wahrzunehmen,

was ich hier und jetzt vor Augen habe. Das ist viel auf einmal.

 

Davon auszugehen, Träume und Vorstellungen könnten die fahle Wirklichkeit

in jedem Fall übertreffen, ist ein Grundlagen-Irrtum.

Eine verstaubtere Idee als Europa, an der Adorno verzweiflte, gibt es nicht.

Sie verharrt in diktatorisch verordneten Formen der Wirklichkeit,

ohne die Lebendigkeit der Menschen wahrzunehmen.

 

Ich halte mich seit einem Jahr vornehmlich in England auf.

Auf dem Festland behaupten die Eingessenen, in England sei das Essen schlecht.

Dagegen anzureden zeigt zweierlei:

1. Der Common sense ist eine Zustandsform, an der die Norm und Normalen

festhalten, bis das Schiff untergeht.

2. Die gängige Meinung ist im Vergleich zur Gegenwart heillos in Verspätung.

3. Die Erziehung zur Form, ist keine Grundschule zur Formwerdung.

4. Ein unverschämtes Ich kann Verallgemeinerungen nicht aus der Welt schaffen.

5. ...

 

Das Richtige unter dem Vorzeichen des Falschen aufrechtzuerhalten, ist eine Erfahrung,

die sich heute einstellen mag, morgen aber schon überholt ist.

So es das Ich gibt, will es in Ruhe gelassen werden und Andere in Ruhe lassen.

Das ist praktisch und faktisch in einem Hotelzimmer (er)lebbar.

Es ist dann noch Zeit genug, ein Du oder die Zukunft zu umarmen. Auf der Schwelle.

 

 

Was im Übrigen in Guernsey unter einem Frühlingserwachen seinen Anfang fand,

ist heute in tiefsten Winter getaucht. Die Menschen hier sind verwundert:

Keine Regel ohne Ausnahme!