André Vladimir Heiz, Sonntag, 1. Juni 2014

Jörg Boner - die Bedingung in jeder Beziehung

Bedingungen – in jeder Beziehung

Im Dialog mit dem Designer Jörg Boner

1. Werkzeug und Zeugwerk

Das Pingpong mit Jörg Boner erstreckt sich bereits über Jahre.

Ohne den erhellenden Beitrag der Fall-Beispiele aus seiner Designwerkstatt

wären viele Doppelseiten in den „Grundlagen der Gestaltung“ leer geblieben.

In allen Bänden veranschaulichen seine Spuren idealtypisch,

was wir uns unter „Design“ konkret vorzustellen haben,

unter welchen Standpunkt wir die uns umgebende Dingwelt

betrachten und behandeln.

Prozess und Produkt gehen Hand in Hand.

So nämlich verstehen wir, wie Welt und Bild zustande kommen,

ja, wie die Dinge entstehen, die wir gewohnt sind,

zur Hand zu nehmen und zu gebrauchen.

 

Das vorliegende Pingpong ist ein Archiv der Zukunft.

Gegend und Gegenstand der Design-Kompetenzen

werden im Wortwechsel bei der Hand genommen.

Die Aus-ein-ander-setzung wirft ein Streiflicht

auf unterschiedliche Sichtweisen,

die dem Design im Plural seine Singularitäten verleiht.

Nur dadurch wird das „Objekt der Begierde“,

das mit Design gemeint ist, zu dem, was wir darunter verstehen.

 

Es kann kein Zufall sein, dass Jörg Boner

in einer „carte blanche“ für den Design Saturday

eine idealtypische Werkstatt in Zeit und Raum gestellt hat,

in welcher der Reigen der gestalterbildenden Prozesse

dingfest gemacht wird.

Kaum ist nämlich etwas vollendet, fängt es wieder von vorne an.

Perpetuum mobile der Motivation: mit etwas etwas anfangen zu können.

Durch die Ontogenese der Sache,

die wir hier keinen Augenblick aus den Augen lassen.

 

Für das Labor, das am Design Saturday in Langenthal

die Handschrift von Jörg Boner trug,

nahm unser Dialog eine Form an,

die Betrachtern und Nutzerinnen einen Blick hinter die Werkbank erlaubt.

 

 

 

 

Mit den Dingen in Berührung zu kommen,

bei der Sache zu bleiben,

richtet den Blick und das Reden aus.

Wir reden hier nicht „über“ Dinge,

die wir vor Augen und unter der Hand haben,

wir kommen mit den Dingen ins Gespräch.

Das ist wie vieles schneller gesagt als getan.

Diese Wahrheit ist keine Binse.

Im Wildwechsel der Ansichten

werden wir im Wortspiel mit Jörg Boner

immer auf den Standpunkt behaftet,

unter dem die Dinge betrachtet werden.

Die Beziehung ist eine Bedingung,

die wir auch an den Gebrauch der Sprache richten.

 

Die Bilderbeute aus der Werkstatt von Jörg Boner zeigt mit aller Deutlichkeit,

dass sich Lösungen von Antworten durch den gestalterischen Prozess

wesentlich voneinander unterscheiden:

Wollen Sie Platz nehmen? Auf die Frage kann eine einfache Antwort folgen.

Allein die Antwort geht leer aus,

wenn wir keinen Stuhl zum Sitzen haben, den Cresta Chair zum Beispiel,

mit dem Jörg Boner 2013 den Design Preis Schweiz gewonnen hat.

Der Stuhl als Prototyp einer Lösung wird damit zu Voraussetzung der Frage,

die nur unter der Bedingung des Daseins einer Möglichkeit Sinn macht!

Ein Dasein das mit Design im Sinne von Jörg Boner gleichbedeutend ist.

2. Möglichkeiten unter Bedingungen

André Vladimir Heiz

Ich möchte mir Dir, Lieber Jörg Boner,

den „Tatort Design“ beleuchten.

Die Werkstatt, die Bauhütte oder das Labor,

das Du für den Design Saturday eindrücklich inszeniert hast,

ist hierfür sinnstiftend und leitbildend.

Wir befinden uns am Ort, wo „etwas“ entsteht,

das Hand und Fuss hat.

„Etwas“, was die Obhut des Ateliers verlässt,

um im Alltag – in welcher Form auch immer – dienlich zu sein.

Es darf sich sehen lassen, aber die andern Sinne sind auch im Bild.

Brauch und Gebrauch beschränken sich ja nicht auf die Augen.

 

Im Atelier geht es ununterbrochen um Entscheidungen,

die sachgemäss die Entwicklung eines Produktes prägen.

„Anything goes“? Ich bin kein Freund der Postmoderne.

Sie hat vor lauter Möglichkeiten die Bedingungen aus den Augen verloren.

Bedingungen! Darum soll sich unser weiteres Ping Pong drehen.

Dazu gehören nicht nur die notorischen Kriterien wie Form und Funktion,

Proportionen, Dimensionen und Materialien.

 

Die Realisierung eines Produktes entsteht selten in einem luftleeren Raum.

Was im Atelier seinen ideell-idealen Ursprung hat,

muss einen Platz finden und haben.

Design findet statt! In einem lebensweltlichen Kontext „mit“ Menschen.

Design ist ein Denken-an und ein Tun-mit.

Es ist auf Verbundenheit und Verbindlichkeit angewiesen.

Es ist gebunden-an: Bedingungen.

Das Ding bedingt sich, alles klar!

 

So verdeckt etwa die heroische Selbst-Darstellung

von Designerinnen und Designern,

dass sich meist mehrere Mitmenschen am Suchen und Finden,

Konkretisieren und Produzieren beteiligen.

Design bespielt jene Schnittstelle vorbildlich,

wo sich unterschiedliche Kompetenzen die Hand geben.

Auch das ist eine Voraussetzung, die für das Vorhandensein

und die Zuhandenheit von Design entscheidend ist.

Die Umstände können mehr oder weniger glücklich sein.

 

Zur Wunschform unserer gemeinsamen Aus-ein-ander-Setzung

gehört die Brauchbarkeit:

Ich möchte, dass es uns gelingt, prototypische Bedingungen

aufzuzählen, auszubreiten und zu durchleuchten.

Zu zeigen wäre, wie Bedingungen Möglichkeiten eröffnen,

wie Möglichkeiten Bedingungen entfalten und enthalten.

Wir kommen und bleiben bei der Sache.

Eine exemplarische Typologie von praktischen Bedingungen ist das Ziel.

Fangen wir einfach an. Ordnung machen können wir später.

 

Aller Anfang ist ein „Fallbeispiel“. Oder zwei. Oder drei.

Sie stammen, es versteht sich, aus Deinem Atelier

und sollen im Einzelfall für jene Bedingungen repräsentativ sein,

an die das Projekt und der Auftrag geknüpft sind.

Sie bilden letztlich das „ausschlaggebende Moment“,

dass die überzeugende Lösung eben „so“ und gerade nicht „anders“ ist.

 

Das alles immer auch anders sein könnte, ist eine Binse.

Design macht ein So zur Bedingung – und im besten Fall

nehmen wir diese als jene Möglichkeit wahr,

die uns angemessen und passend scheint.

Vielleicht ist es gar die beste unter vielen andern.

Daraus gerinnt jene Selbstverständlichkeit,

die wir zu Recht mit Sachlichkeit bezeichnen.

Wir nehmen auf einem Stuhl Platz und reden nicht über ihn.

Auch das ist eine Lösung.

 

Jörg Boner:

Lieber André Vladimir

mit den Bedingungen hast Du mein Herz getroffen.

Es ist genau diese scheinbare Enge,

die mich brennend interessiert.

Die Bedingungen sind ja so etwas wie eine Einschränkung,

die ich aber nie als solche verstehe.

Eher sind sie Antrieb, Motivation, Katalysator.

Sie sind der Rahmen den ich um ein Projekt lege.

Nicht wie etwas fertiges, vor-dimensioniertes.

Eher vielleicht so, wie wenn ein Bauer, seine Wiese "einzäunt".

Er läuft mit der Drahtrolle durch die Landschaft

und entscheidet situativ wie der Verlauf aussehen soll.

Am Schluss ergibt sich ein abgestecktes Feld.

In und ausserhalb dieses Feldes der Bedingungen kommen Menschen vor.

Der Umstand "mit" Menschen ist die Basis für alle meine Tätigkeiten.

Und er beginnt immer weit vorne im Projekt.

Dort nämlich wo ich diejenige Person treffe,

die dann später vielleicht mal mein Auftraggeber wird.

 

André Vladimir Heiz:

Bedingungen schaffen den Rahmen und den Raum,

in dem sich Vorstellungen erst entwickeln können.

Die Vorstellungen laufen damit nicht ins Leere: sie geben sich ein Gegenüber,

Gegebenheiten, die Umgebung vor –

wie Du sie seinerseits für Langenthal als Werkplatz idealtypisch

inszeniert hast.

Ich meine entschieden, dass Praxis mit den Bedingungen gleichbedeutend ist.

Daraus erst können sich geeignete Massnahmen ergeben.

Gehen gehört dazu, hinaus und hinein, auf und ab, übers Land.

Das Spielfeld geht aus der Erfahrung hervor,

eine Erfahrung, die körperlich und sinnlich ist:

in jedem Fall mehr als ein Bild.

 

Jörg Boner:

Gerne wähle ich auch das Fallbeispiel mit Aktualität.

Es ist der "Cresta" Chair für das ganz kleine Label DADADUM.

Eben hat er den Designpreis "Newcomer" gewonnen.

Und eben wurde ich auf der Bühne bei der Preisübergabe gefragt,

wie sich an diesem Produkt "Innovation" manifestiert.

Ich antwortete, dass der Stuhl, sehr unschweizerisch,

für einmal ohne Innovation auskommt.

Und ich überlegte mir, ob denn Innovation, technischer Art wohl gemeint,

immer so etwas wie die Erlaubnis ist, dass Design überhaupt entstehen darf?

 

André Vladimir Heiz:

Ist die Leiter Wittgensteins – von Grund auf Architekt – aus Holz?

Jene Leiter, die wir sozusagen wegwerfen, nachdem wir sie hochgestiegen sind?

Nichts läuft mehr aus dem Ruder als der bedingungslose Gebrauch von Begriffen,

die haltlosen Ideen auf dem Holzweg folgen.

Innovation heisst nichts, wenn nicht gezeigt werden kann,

was im Einzelfall damit gemeint ist. Es kann sich um eine Einzelheit,

eine Eigenart handeln, auf die unsere tägliche Erfahrung aufmerksam macht.

Nachhaltigkeit und andere Leerformen werden nur nachgebetet,

weil sie ungeprüft in Formularen und Texten Einzug gehalten haben.

Beschreiben ist nicht behandeln im eigentlichen Sinne, selbst wenn davon gesprochen wird.

Die Innovation beginnt genau da, wo sie das herkömmliche Wort übertrifft.

Verliert Design nicht genau dann sein Anliegen aus den Augen,

wenn es nur der Illustration von Begriffen dient, die in der Luft liegen?

Gehört es nicht zu den Bedingungen, sachgemäss und sinnstfiftend darüber zu reden?

 

Jörg Boner:

Erstmal möchte ich nochmals zurück zu den Bedingungen:

Vor den ersten Gedanken an diesen Stuhl gab es ein Treffen.

Demian Conrad hat mich telefonisch um einen Termin gebeten.

Ich kannte ihn nicht.

Er würde gerne in mein Atelier kommen

und mir von seinem Vorhaben erzählen.

Er möchte eine Möbelkollektion gründen.

Ich war zunächst nicht wirklich begeistert.

Neugründungen von Möbelkollektionen das sind nicht per se wirtschaftliche Erfolgsmodelle.

Keine Bank würde dafür nur einen Franken zahlen.

 

André Vladimir Heiz:

Warum eigentlich nicht?

Gehörte es einst nicht zu den vornehmen Aufgaben von Banken,

kleineren und mittleren Unternehmen zum Schwung zu verhelfen?

 

Jörg Boner:

Trotz allem wollte ich aber hinhören.

Konsequent sein und aus Erlebtem Lehren ziehen, das ist nicht meine Art.

Gerne werde ich überrascht und noch so gerne würde ich vom Gegenteil überzeugt werden,

von dem, was ich bis anhin glaubte. Das gelingt nur, wenn ich auch einem solchen,

fast hoffnungslosen Vorhaben, erstmal positiv gegenüberstehe.

 

Eines Freitagabends taucht er auf. Im Gepäck bringt er eine tadellose,

sehr schöne Präsentation die seine Motivation erklärt.

Er erzählt von Max Bill, von Hans Coray, von den Konkreten,

von der Frage, ob es eventuell "Schweizerische" Materialen gibt.

Nicht solche, die nur hier vorkommen.

Solche, die man irgendwie mit der Geschichte des

Schweizer Möbels in Verbindung bringt.

Massivholz zum Beispiel. Oder Aluminium.

 

Mit seinem Label DADADUM möchte Demian Conrad,

ausgehend von der Schweizer Designgeschichte weiterstricken.

Mit zwei anderen Schweizer Designern und mit mir.

Finanzielle Mittel hat er fast keine. Er betreibt ein Grafik- Atelier mit tollen Arbeiten.

Und er versucht das dort verdiente Geld in seine Kollektion zu investieren. Vorerst.

Er hat mich überzeugt mit seinem Engagement, seinem Willen,

seiner Intelligenz und Schlauheit und nicht zuletzt mit seinem Charme und Humor.

Noch am selben Abend habe ich ihm versprochen,

für seine Kollektion zu zeichnen, zu denken und zu bauen.

Das war der Anfang, im Jahre 2010. Objektive Gründe, da mitzumachen

gab es wenige. Subjektive Gründe hingegen einige.

 

André Vladimir Heiz:

„Triff eine Entscheidung“ – Damit beginnen bekanntlich die „Gesetze der Form“

von George Spencer Brown.

Sich Möglichkeiten zuzugestehen oder sich an Bedingungen zu halten,

beruht auf einer Entscheidung.

Bedingungen eröffnen Möglichkeiten; Möglichkeiten begegnen Bedingungen.

Zwischen beiden zu pendeln, zu vermitteln,

ist nicht die Frage einer blutleeren Dialektik.

Antworten sind noch keine Lösung.

Für die Designdomäne trifft auf die „Lösung“ der Begriff der Emergenz zu:

Sie ist gleichzeitig mehr als beides.

Das gilt, wie ich verstehe, auch für ein Abenteuer wie Dadadum.

 

Jörg Boner:

Ich hoffe, Du bist in Form?

Milano ist vorbereitet, auf mir ruht die Ruhe vor dem Sturm.

Alles geht rund und so, dass mir die Freude in keine Art und Weise abhanden kommt.

Im Gegenteil.

Sehr gerne empfange ich Dich bei mir im Atelier.

Und dann möchte ich auch das Pingpong aktivieren.

Gerne möchte ich anlässlich Deines Besuches das Spiel wieder intensivieren.

Mir ist nämlich das Thema, das wir damals angefangen haben etwas abhanden gekommen,

und neue Sichtweisen überlagern es.

Viel dringendere, intensivere und vielleicht auch lesenswertere, als dasjenige,

das ich damals mal gewählt hatte.

Wie Du weisst, ist im Entwurf immer das Aktuellste das Intensivste und Dringendste.

So gehts mir grad. Die Aktualität überrollt die alten Projekte und stellt neue Fragen,

denen ich mich sowohl in meinem Denkprozess und Entwurfsprozess, wie auch im Text

(was ja manchmal miteinander verwandt ist) widme

und mit denen ich mich beschäftigen will.

Würde nun das Ping Pong eine parallele Kurvenfahrt

mit meiner Entwurfsrealität mitmachen, dann fände ich das sehr toll.

Denn dann bildet sich etwas ab, das vorkommt und das man so selten denkt.

Wohl eher nur erlebt.

Ich freue mich, bis Du wieder in der Nähe bist und darauf,

unser Projekt zu beschleunigen, zu intensivieren und dingfest zu machen.

 Herzlich 

Jörg

3. Bedingungen auf einen Schlag

 

OYSTER - Wittmann: Die Naht geht auf das Handwerk zurück...

 

 

CRESTA - Dadadum:Die Gestaltungsprinzipien der Reduktion -

auf den Stuhltypus der Stabelle angewendet...

 

 

BAHIR - Cor: Das Volumen folgt geometrischen Grundsätzen,

die Nähte machen darauf aufmerksam...

 

 

UN - ewo: Der Leuchtenkopf verschmilzt idealtypisch mit dem Mast...

 

 

ECLAR - Schlätti: Eine stille Form von Gestaltung...

 

 

FABRIK - Design Saturday, Langenthal: Der kleine Raum stilisiert als Fabrik -

schärft das Bewusstsein für die Entstehung der Dinge...

 

 

WOGG 50 - Wogg: Eine Grenzerfahrung

der zweidimensionalen Verformung von Sperrholz...

 

 

WOGG 42 - Wogg: Erst die Faltung macht aus dem Schnittmuster

eine dreidimensionale Sitzmulde...

 

 

THERMOS - Nestlé: Kaffee zu trinken ist ein sozialer Akt...

 

 

OLMA - limited: Diesem Regal liegt die Herangehensweise

eines Bildhauers zugrunde...

 

VOLATA - Tossa: Ein Tisch aus massivem Holz, nicht mehr, nicht weniger...

 

 

MOVING WALLS - moving walls: Weisse Wände als Projektionsraum für Ideen...

4. Vorspiel

Die Formen unseres ununterbrochenen Dialoges lassen sich nicht abbilden.

Aber ein Bild ergeben sie.

Wenn wir einen Stein ins Wasser werfen, entstehen vor unseren Augen

konzentrische Kreise. Unsere Kreisbildungen gehen von einem Zentrum aus

und führen auf willkommenen Umwegen auch dahin zurück.

Wir haben schon vor Jahren damit begonnen. Ein Ende ist nicht in Sicht.

 

Das „Archiv für die Zukunft“ führt hier ein Stück weit auch in die Vergangenheit.

Erste Spuren unseres Pingpongs zeigen,

dass wir ununterbrochen um die Dinge kreisen,

um aus der konkreten Betrachtung Möglichkeiten abzuleiten,

die uns prospektiv und programmatisch innovative Zugänge erschliessen sollen.

 

Das Andere oder Neue entsteht selten aus Zufall.

Es geht aus einem Einfall hervor, der in Beziehung zu Vorstellungen steht,

die durch ihre Konturen und Konsistenzen Form annehmen.

Die Wörter sind im Hin und Her der Klärung ein Werkzeug,

das immer in Beziehung zum Zeugwerk steht.

Wir machen Nägel mit Köpfen, unseren Köpfen versteht sich.

...„Ein schlechter Beobachter, wer nicht bemerkt,

wie anregendes Gespräch zweier Personen bald den Zustand herbeiführt,

dass jede von ihnen Gedanken äussert, die sie allein oder in anderer Gesellschaft

nicht zu produzieren imstande wäre. Eine besondere Stimmung stellt sich ein,

der keiner der Teilnehmer sonst habhaft wird, die aber fast immer wiederkehrt,

so oft beide Personen zusammenkommen.

Längere Dauer dieses Zustandes erzeugt aus gemeinsamem Verständnis

und gegenseitigen Missverständnissen ein Denkgebilde,

das keinem der zwei angehört, aber durchaus nicht sinnlos ist.

Wer ist sein Träger oder Verfasser?

Das kleine zweipersonale Kollektiv.

Kommt ein Dritter hinzu, so macht er die frühere Stimmung verschwinden

und mit ihr die besondere schöpferische Kraft des früheren Denkkollektivs;

ein neues entsteht“...

(wobei das „Dritte“ ein fassbarer Gegenstand, ein Produkt sein kann!)

 

Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache.

Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv Suhrkamp, Frankfurt am Main.

 

Das Pingpong mit Jörg Boner öffnet sich auf Formen des Dialoges,

der den vordringlichen Fragen der Gestaltung gewidmet ist.
Es ermöglicht uns, Position zu beziehen,
aus welchem Blickwinkel auch immer.

Utopien stehen gegen Nostalgien,
Stürme der Begeisterung gegen die Ernüchterung,
die Entzauberung gegen die Verzauberung des „Handwerks“.
Die Unterhaltung im eigentlichen Sinne des Wortes

ist ein Spiegelbild der Gestaltung in aller Form.
Das Sprach-Labor soll den Austausch und Diskussionen beflügeln.
Gestaltung hat viele ansprechende Gesichter.


André Vladimir Heiz:
Standpunkt und Standort: die deutsche Sprache legt uns Wortspiele in den Mund,

die uns auf Nuancen aufmerksam machen,

welche für die Domäne des Designs von Bedeutung sind.

Im Besonderen, so scheint mir für Deine Vorgehensweise.
Deine Projekte gehen „Verbindungen“ ein,

die sich aus Deinem kreativen Standpunkt und einem möglichen Standort sinnfällig ergeben.
Gebrauch und Nutzen sind vornehmlich ortsgebunden.
Wo steht ein Stuhl, wo steht eine Lampe?
Deine Arbeiten vertreten einen Standpunkt,

der die „Verbindung“ nicht etwa als etwas Drittes sieht,

das sich so oder anders ergibt, sondern sie behandeln – in meinen Augen –

die Verbindung als „Ur-Sache“! Daraus geht alles hervor.

Jörg Boner:
Ja, die „Ur- Sache“ ist mir in verschiedenen Belangen ganz wichtig.

Gestaltung, so scheint es mir, leidet immer wieder unter dem Verdacht der Beliebigkeit.

Und da sind wir Täter nicht ganz unschuldig.

Ich suche einerseits die Verbindung von Ort und Objekt. Aber nicht nur.

Immer wieder ist es das Umfeld der Herstellung, das interessiert.

Dabei meine ich nicht nur die vielfältigen Arten der Herstellungsmöglichkeiten.

Vielmehr betrifft dies die Position der Firma in der Welt, das Umfeld der Personen,

die unseren Entwurf dann mal herstellen und mit sich auf den Markt tragen.

Ich glaube daran, dass Produkte zu Personen und zu Situationen gehören.

Nicht nur die späteren Besitzer, auch die Hersteller gehen eine Beziehung ein.

Ich möchte den Herstellern gerne glauben, wenn sie sich neben „Ihrem“ Produkt positionieren.

Die Wahrnehmung eines Produktes oder Objektes verändert sich,

je nachdem welche Person oder welche Firma sich mit ihm zusammen zeigt.

Aber es gibt auch noch andere Fälle von „Ur- Sache“.

Manchmal liegen sie im Objekt selber.

Eben haben wir für eine Ausstellung Drachen gebaut bei uns im Atelier.

Dieses Objekt fasziniert mich enorm. Es ist zum Fliegen gemacht.

Seinen grössten Wert entfaltet es im Flug. Wenn der Papierdrachen in einem Atelier liegt,

dann schwingt diese Imagination von Fliegen mit. Die Option zu fliegen,

ist etwas, das dem Produkt innewohnt und seine Ausstrahlung entscheidend beeinflusst.

André Vladimir Heiz:
„Keine Angst vorm Fliegen!“ – wie Leonardo da Vinci in seinen legendären Notizen.

Gegen die Beliebigkeit gibt es wahrscheinlich zwei Begriffe, die in der „Verbindung“ nisten,

nämlich: die Spannung und die Tendenz.

So ist die „Tendenz“ zum Flug an einen Papierdrachen gebunden.

Während der Entwurfs- und Konkretisierungsphase wirst Du diese Tendenz

wohl nie aus den Augen lassen.
Zur Spannung kommt die Spannweite, aber auch die Art des Fluges,

von dem der Gebraucher oder die Betrachterin zu Recht annehmen,

dass dieser „spannend“ wird.

Diese Spannung wird in der berechtigten Erwartung der Flugtauglichkeit
bestätigt und durch das überraschende Moment der Flugbahnen aufrechterhalten.
Dies alles verdeutlicht beispielhaft, dass sich Design nicht auf eine reine Objekthaftigkeit

reduzieren lässt. Standpunkt und Standort, davon sind wir  ausgegangen.

Tendenz und Spannung sind ebenfalls im Spiel.

All die möglichen Verbindungen spiegeln sich wahrscheinlich

in den unscheinbaren Wörtern wie da-zu, da-mit, da-für, da-durch, da-bei!

 

Jörg Boner:

Ja das Fliegen.

In der Designumgangssprache würde man das wohl als „Funktion“ bezeichnen.

Aber das Fliegen ist ja viel mehr. Es ist ein Versprechen und eine Vorstellung gleichzeitig.

Und beides wohnt im Objekt. Darauf ist es angelegt. 

Trotzdem, nur zu wissen dass es fliegen soll genügt noch lange nicht,

um es dann auch entwickeln zu können.

Der Drachen soll einem ja auch dazu verführen,

ihn fliegen und in den Himmel steigen zu lassen.

Nur zu wissen dass er fliegt, ermuntert mich ja noch nicht,

ihn auch tatsächlich steigen zu lassen.

Das Wort „Tendenz“ gefällt mir sehr gut im Bezug auf die Kreation eines Produktes.

Tendenz meint ja wohl, dass das Pendel eher in die eine Richtung

anstatt in die andere Richtung ausschlägt.

Tendenzen sammeln wäre demnach also Entwicklungsarbeit.

Aber was sind denn Tendenzen genau?

Beobachtungen? Regeln? Kulturelle Erfahrungen? Behauptungen?

Haben Tendenzen mit meinem Standpunkt zu tun oder sind sie allgemeiner?

 

André Vladimir Heiz:
Tendenzen also, das Schlüsselwort der Gestaltung in die Mehrzahl gesetzt.

Zu recht. Ich verstehe darunter eine Gebrauchs-Anweisung,

mit gestalterischen Problemstellungen angemessen umzugehen.

Das Gesamt an Beobachtungen richtet sich zunächst auf den „Gegenstand“,

um diesem in seinem Potenzial der Verbindungen gerecht zu werden.

In unserem Denken-an lauert die Tendenz auch auf – und sei es im Freispiel der Assoziationen.

Indem wir unterschiedliche Standpunkte einnehmen – was körperlich gemeint ist –

loten wir die Gegenseitigkeit der Tendenzen aus.

Wenn wir die Tendenzen als eine Kategorie oder Werkzeugkiste verstehen,

können wir verschiedene „Formen“ oder „Anwendungen“ dieser Tendenzen vorsehen.

Sie können – wie Du vorschlägst – von kulturellem und kollektivem Zuschnitt sein

(etwa wie eine Konvention oder ein Trend),

sie zeigen sich aber auch unverwechselbar im Zugang der gestalterischen Persönlichkeit,

wodurch ich unter dem Begriff der Tendenz die Handschrift von Jörg Boner erkenne.

„Umgangsformen“ mit Entwicklungen und Realisierungen, mit Welt und Bild,

Du und Ich sind das Merkmal der Tendenz! Auf der ganzen Linie.
 

Jörg Boner:
Unsere Homepage ist alt.

Um genau zu sein ist sie 1 Jahr lang ohne Neuigkeit ausgekommen.

Letzte Woche haben wir uns Zeit genommen,

sie zu lesen und uns die darauf liegenden Bilder vor Augen zu führen.

Mit dem Ziel sie zu erneuern, der Zeit anzupassen ohne eben dieser Zeit auf den Leim zu gehen.

In der Eigendarstellung fehlt viel, ist inzwischen unpräzise und überholt.

Die Tendenzen müssten in Mehrzahl gesetzt darin Platz finden.

Denn es liegt mir sehr viel daran, mit Problemstellungen angemessen umzugehen.

Für mich heisst „angemessen“ aber auch, divers zu sein und zu bleiben.

Divers in allen Belangen.

Gerne würde ich den Zähler meiner Erfahrungen immer wieder von Neuem auf Null stellen.

Ganz von vorne beginnend in ein neues Projekt starten.

Nur mit Beobachtungen, mit Dialogen und einer Handvoll Zeichen,

die ich aus unserer Kultur kenne.

Denn angemessen mit dieser Unmenge von Realitäten und Bedingungen umzugehen,

heisst für mich auch, dass man in die unterschiedlichsten Formen und Ausdrucksweisen

schlüpfen muss. Mich interessiert, die sich immer wieder aufs Neue verändernden Kontexte

und Bedingungen zu bündeln, zu gruppieren.

So, dass sie lesbar werden und mir Handlungsanweisungen zuspielen.

Gerne lasse ich mich darauf ein.

Mit Interesse versuche ich diese neue Ordnung zu verstehen.

Um dann am Ende doch mich selber zu bleiben und die Linie zu halten.

Falls sie sich halten lässt.