André Vladimir Heiz, Sonntag, 1. Juni 2014

Félix Müller: Zürich-Paris

 

Mit Félix Müller zwischen Paris und Zürich

1. Grund – Meilensteine der Geschichte der Grafik

Die Geschichte der Grafik ist eine junge Wissenschaft.

Es ist erfreulich, dass Ausstellungen und Publikationen

dieses lebensweltlich bedeutende Gebiet vor Augen führen.

Mit all seinen Implikationen und Konsequenzen,

die vom Umgang mit einer einzelnen Serife bis hin zu komplexen Zusammenhängen

alles erfassen, was durch Formen der Visuellen Kommunikation

zur Darstellung kommt.

Was unter dem Begriff der Information alles in Frage kommt,

zeigt sich im Wandel der Ansprüche in der Zeit und an Ort.

 

Hinter der schillernden und vielschichtigen Formen der Grafik

stehen aber immer auch Gesichter, die an der Entwicklung ihrer Geschichte

mit Hirn und Herz, Hand und Verstand teilnehmen.

Die vorliegende Spur ist ein Stück „Grafik-Geschichte“.

Sie spielt sich am Grenzübergang zwischen der deutschen Schweiz

und Frankreich ab.

Das grundlegende Verständnis für „Grafik“ könnte dabei nicht unterschiedlicher sein.

Gleichwohl haben zahlreiche Schweizer der französischen Grafik

Wege eröffnet, die ihr bislang weniger vertraut waren.

Und umgekehrt: Savoir-vivre und savoir-faire schliessen sich nicht aus.

 

Aus dem Pingpong mit dem Gestalter Félix Müller

entstand ein Stück „Grafik-Geschichte“.

Sie beginnt in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts in Zürich

und endet an einem Tisch im neunten Stock eines Hauses in Paris.

Auch da war die Moderne angekommen!

Der Blick schweift über die Dächer auf Brachen und Industriezonen.

Die Zukunft ist zum Greifen nah.

Wie wollen wir nun den Gestalter Félix Müller bezeichnen?

Weisen uns Pässe wirklich aus?

Wissen wir, wer wir sind, wenn wir eine Identität haben?

Naheliegender ist es doch zu zeigen, was wir machen!

Nichts anderes hat das folgende Pingpong im Sinn:

2. Figur – Grafik ist vollendete Gegenwart

Félix Müller:

Großstädte interessieren mich seit meiner frühen Jugend.

In Zürich fühlte ich mich in den Subkulturen zu Hause, aber nachdem ich Mailand,

Köln, Berlin und Barcelona kennengelernt hatte, war mir die Zürcher Szene zu überschaubar,

zu kleinstädtisch. Gerne hätte ich in Berlin studiert, doch wollten sie mich dort

im Fachbereich Visuelle Kommunikation der Hochschule der Künste nicht haben.

Ich musste also noch etwas in Zürich bleiben.

Dort hatte ich mehr Glück und wurde 1987 in die Weiterbildungsklasse Visuelle Gestaltung

der Höheren Schule für Gestaltung aufgenommen.

 

André Vladimir Heiz:

Ich erinnere mich: ich war voller Erwartungen und Hoffnungen wie Du.

„Thema und Variationen“ hiess das Projekt an der Schule für Gestaltung,

ein Grund, auf dem unsere Begegnung erstmals zur Figur wird.

Du warst Feuer und Flamme herauszufinden, ob die Form hält, was sie verspricht.

Ich war als „Lehrer“ dabei; „Theoretiker“ war ein Schimpfwort.

 

Wir glaubten an die Unerschöpflichkeit des gestalterischen Ichs

und an die schier grenzenlosen Möglichkeiten des Experiments.

Ich erinnere mich an Momente heller Begeisterung für alles,

was unter der Hand und vor unseren Augen zum Ausdruck kam.

Das Neue, frei und offen, sollte der „Visuellen Kommunikation“ jenes Bild geben,

das wir uns von uns selbst machten. Niemand stand uns im Wege – fehlte noch!

 

Félix Müller:

Grenzen und deren Überschreitung faszinieren mich schon lange.

Als Junge fuhr ich an Mittwochnachmittagen vom Zürcher Vorort, wo ich aufwuchs,

mit dem Fahrrad ins nahegelegene Deutschland, einfach um zu sehen,

wie an der Grenze der Straßenbelag abrupt in einen anderen überging,

einen mit mehr Rissen und mehr Unkraut an den Rändern.

Gleich nach der Grenze sahen die Häuser noch sehr ähnlich aus wie bei uns,

und die Menschen redeten fast genauso wie ich, nur bezahlte man hier schon mit D-Mark.

Die Grenze war also eigentlich weniger scharf als der Strich im Straßenbelag, sie war fließend.

 

André Vladimir Heiz:

„Grenzen“ sprengen, in die Utopie ausschwärmen, Unterschiede erkunden,

das Anderswo erfahren: Augen und Sinne hatten den Weg schon unter die Füsse genommen.

Die exotischen Auslagen und Zuhandenheiten an der Langstrasse waren „geil“ und „cool“.

Anheimelnde Brockenstuben waren ein Narkotikum. Yuccas waren nicht verpönt.

In Hinterhöfen und skurrilen Hotelzimmern blühte die Liebe zum Bild auf,

schwarz auf weiss, in Farbe war zu naheliegend.

 

„Subito“ – das Zauberwort jener Zeit beschwor ein diffuses Ideal

von Autonomie und Authentizität.

Verändert werden sollte der Standpunkt der Wahrnehmung.

Unscharf blieb zwar, was wir uns unter „Wahrnehmung“ konkret vorstellen:

wie geht sie physiologisch und ideologisch vor, wenn sie sich ein Bild macht?

Vor lauter Möglichkeiten blieben die Bedingungen ein Fremdwort.

 

Félix Müller:

In der Schweiz kam ich mir wie in einem goldenen Käfig vor.

Von Kindheit an hatte man mir immer wieder gesagt, wie gut wir es hier hätten,

wie arm die Leute anderswo seien und welch Privileg es sei, seinen Beruf wählen zu können

und erst noch gute Ausbildungsmöglichkeiten zu haben.

Das sah ich ein, aber gleichzeitig kam mir hier alles so eng und aufgeräumt vor,

zu kontrolliert, intolerant und uninspirierend.

Sobald ich die Grenze zum Ausland überschritt, atmete ich freier.

So suchte ich nach Wegen, mein Leben woanders zu führen.

Nicht reisen wollte ich, um wieder zurückzukommen, sondern richtig auswandern.

 

André Vladimir Heiz

In der Obhut der Schule mit ihren Freiräumen würde der Grundstein für die Zukunft gelegt.

Hegels Satz, dass die „Freiheit Einsicht in die Notwendigkeit ist“,

hat mich ein Leben lang begleitet.

 

Ich rede als „Fremdkörper“. Ich sah mein „Da-Sein“ oder mein Unbehagen

im geschwätzigen „Diskurs aus der Enge“ von Paul Nizon in keiner Weise gespiegelt.

Feindbilder und Fichen waren für mich die Folge von Denkfiguren,

die in den vorherrschenden Dichotomien befangen bleiben.

Gewalt beginnt mit der Herrschaft der Verwaltung, die heute eine „Schule als Labor“

durch entsprechende Formulare bereits verbietet. Wir hatten Glück, mein Lieber.

 

Ich habe immer davon geträumt, dass die Kühnheit einer tabulosen Analyse

auch die eigenen Ideologien und Scheuklappen aufzubrechen vermag.

Ich glaubte tatsächlich, dass wir die „symbolischen Formen“ und die „Wirkung der Zeichen“

durchleuchten würden, um Visionen zu haben und alles anders zu machen.

Abklärungen statt Aufklärung!

 

Gemacht haben wir im Übrigen vieles.

Ich erinnere mich an eine anregende und aufregende Stimmung,

ich meine das Feuer der Produktivität zu spüren, auch wenn Freund Aldo Walker,

mit dem ich später die Visuelle Kommunikation leitete, von „selbstbefreiendem“ Tun sprach.

Jedenfalls glaubten wir, unsere eigenen Vorstellungen zur Darstellung bringen zu können,

um damit der Aussenwelt unser Inneres aufzudrängen. Sagen ist gut, Zeigen ist besser.

 

Im Nachhinein – sprichwörtlich klüger – vermute ich,

dass der sogenannte Paradigmenwechsel gar nie stattgefunden hat.

Postmoderne Beliebigkeit, autopoietische Systeme und die Uferlosigkeit der Diskurse warfen

ihren Schatten bereits voraus.

Das bis zum Überdruss beschworene „kritische Bewusstsein“ genügt sich selbst.

Es ist ein Bild, dem die Konturen und Konsistenzen als Mythologem fehlen.

Es hat keine gesellschaftlichen Auswirkungen; die wirtschaftliche Nachhaltigkeit bleibt unberührt.

 

In der Schule drehte sich alles um ein mutmassliches Selbst,

das im Erkunden eigener Befindlichkeiten seiner „Stimme“ und „Sprache“,

seinen „Bilder“ und „Welten“ auf der Spur war.

Was aber hatte das mit den „Anderen“ zu tun? Mit welcher Absicht?

Und in welcher Form?

 

 

Félix Müller:

Ruedi Baurs Angebot, in seinem Pariser Atelier mitzuarbeiten,

war für mich die Chance, die Schweiz zu verlassen.

Wäre mir aber zum Beispiel eine Stelle in Wien angeboten worden,

wäre ich wohl auch dorthin gezogen.

In Paris bin ich also eher zufällig gelandet.

Vor der ersten Verabredung zur Besichtigung des Ateliers Intégral Concept

hatte ich gerademal ein Wochenende hier verbracht.

Immerhin hatte ich einige Jahre Französisch gelernt.

Dass mir diese Sprache liegt, verdanke ich Verena Hermansen

und ihren Französischkursen an der Gestalterischen Berufsmittelschule.

Dort verteilte sie uns Texte von Villon, Baudelaire, Rimbaud, Verlaine, Apollinaire,

Camus und Vian, die ich zu verstehen glaubte

und durch die ich mich in meiner Art bestätigt fühlte.

Ansonsten interessierte mich Frankreich,

abgesehen von seinen kulinarischen Köstlichkeiten

und den Landschaften bestimmter Regionen, jedoch nicht sonderlich.

Es schien mir verknöchert, sehr traditionell und ohne spannende Alternativszene.

 

Bei meinem ersten Besuch im Atelier Intégral Concept

– damals von Ruedi Baur und Pippo Lionni geführt –

beindruckten mich als erstes die alten Pappkartons, die als Papierkörbe dienten.

Sie standen im krassen Kontrast zu den verchromten Design-Eimern,

die in der Agentur in Zürich-Oerlikon, wo ich noch arbeitete, herumstanden.

Die Zusammensetzung von Ruedis und Pippos Mitarbeitern war international,

und Montreuil, der Pariser Vorort, wo das Atelier lag, war sehr belebt von Menschen

unterschiedlichster Couleur. In bestimmten Läden und am nahegelegenen Markt

wurden Gemüse angeboten, die ich zuvor noch nie gesehen hatte.

Das alles gefiel mir auf Anhieb.

Ohne lange zu zögern, kündigte ich bei Frame by Frame Computergraphics,

wo ich seit Abschluss meines Studiums gearbeitet hatte.

 

 

André Vladimir Heiz:

Mit dem „Andern“, den „Andern“ in Berührung zu kommen, ist eine körperliche Realität,

die mich bei allen Sinnen immer wieder aufs Neue erschüttert.

Zum Beispiel hier im Libanon, wo die französische Sprache klag- und klanglos verschwindet.

Klare Gesten gehen vor; Geräusche und Gerüche treffen Zwischentöne wortlos.

 

Wir sind Kinder einer fortschreitenden Differenzierung,

die sich über die Konturen und Konsistenzen, Implikationen und Konsequenzen dessen,

was „Identität“ bedeutet, wenig Sorgen macht. Und zwar als gestalterisches Ereignis.

 

„Gestaltung“, der Begriff in seiner empirischen Färbung ist eine handfeste Antwort

auf die metaphysische „Erhabenheit“ Kants.

Er bildet sich ein, wir schafften den Übergang von einem Eindruck zum Ausdruck,

vom Entwurf zum Resultat ohne Erschütterungen, weil die heroische Instanz des Ichs

auf dieser Welt durch nichts aus der Fassung zu bringen ist.

Metaphysischer Kitsch und ontologischer Wahn feiern

im grammatikalischen Singular Urstand.

Als Gestalter jedoch geht es uns um Singularitäten.

Eine Didot ist keine Gill. Wir lieben den kleinen Unterschied.

Wir halten uns an die Figur mit gutem Grund.

 

Meine Faszination für die Kultur meiner Muttersprache verbindet sich

etwa mit Stéphane Mallarmé, Lautréamont, dem Nouveau Roman, Emmanuel Lévinas

und Maurice Mérleau-Ponty, der durch sein „entre-deux“ auf den Punkt bringt,

was mit dem gestalterisch-künstlerischen Abenteuer und Risiko gemeint ist:

Eine Brücke zwischen dem Einen und Anderen zu bauen, wie es Nietzsche vorschwebt.

 

Das ist, ich gebe zu, schneller gesagt als getan.

Das weisse Blatt Papier, vor dem wir sitzen, deckt es schonungslos auf.

Das Ich wird in jedem Fall als gestalterische Instanz in Mitleidenschaft gezogen.

Darum bleiben wir – um auf Foucault anzusprechen – nicht stehen.

Es ist zwar immer dasselbe, aber nie das Gleiche. Après coup ist avant le coup !

Être dans le coup ? Liebe und Praxis sind darin gleichbedeutend!

 

Félix Müller:

Im Juni 1992 trat ich meine neue Stelle an.

Dass ich nur noch etwa einen Drittel meines ehemaligen Schweizergehalts verdiente,

nahm ich hin. Dafür war ich euphorisch, fühlte mich näher am Weltgeschehen,

und die Lebenskosten waren hier ja auch niedriger.

Bei Intégral wurde an unter anderem gerade für das Pariser Théâtre de l’Athénée gearbeitet.

Ich sollte die Printmedien für dessen kommende Spielzeit gestalten

und mich auch um ihre Herstellung kümmern.

Es war mein Wunsch gewesen, vermehrt im Kulturbereich zu arbeiten.

Nun war ich aber schon mit meinem Schweizer Schulfranzösisch wirklich nicht auf der Höhe.

Dies interessierte jedoch weder den Kunden noch den Fotolithografen oder den Drucker.

In einer Geschwindigkeit wurde am Telefon auf mich eingeredet,

dass ich kaum die Hälfte davon verstand. Wie ich mich selber ausdrückte,

wirkte nicht selten belustigend auf mein Gegenüber,

und oft wurden meine Sätze fertiggesprochen, bevor ich sie selbst beenden konnte.

Es entstanden Missverständnisse und Fehler.

 

Anders als ich es aus der Schweiz gewohnt war,

war der Arbeitsprozess hier denkbar schlecht organisiert.

Zu layoutende Texte wurden meistens im allerletzten Moment abgegeben

und auch danach noch umgeschrieben. Ich arbeitete von morgens früh bis abends spät,

und trotzdem gingen die Dateien manchmal zu spät in den Druck.

Womöglich geschah dort auch noch ein Fehler,

der wiederum in einer feuerwehrübungsähnlichen Aktion möglichst behoben werden musste.

Einmal wurde das Theaterprogramm erst geliefert,

nachdem die Premiere des Stückes bereits stattgefunden hatte.

 

André Vladimir Heiz:

Druck und Fehler: in der Praxis kommt alles vor. Die gestalterische „Freiheit“ übersieht,

dass wir in jedem Augenblick von andern „abhängig“ sind,

ja wie sehr wir auf die Mithilfe von „Anderen“ angewiesen sind.

Was alles tun wir, um im Alltag über die Runden zu kommen.

Wie gelingt es uns, um ihm ein Gesicht zu geben?

Wie gewinnen wir dem Einen und Anderen,

dem Einen nach dem Anderen einen kohärenten Ablauf ab?

 

Dieser lebensweltlichen Komplexität widerspricht das Ideal einer hehren Autorenschaft.

Denken heisst „denken-an“, machen heisst „machen-mit“:

der technologische Fortschritt erlaubt kaum mehr,

den „Computer“ selbstherrlich wie einen „Bleistift“ zu behandeln.

Die Ausbildungsziele in Zürich erweisen sich im Nachhinein als romantisch und altmödelnd.

Lebensnahe Interferenzen, der Dialog im Team,

das Vergleichen und Vermitteln widersprüchlicher Standpunkte waren tabu.

Erst im Hinblick auf die elementaren Bedingungen machen Möglichkeiten in der Praxis Sinn.

Das Leben ist die Kunst! Sicher ist man nie.

 

Félix Müller:

Meine Selbstsicherheit schmolz.

Anfangs hatte ich beim Mittagessen lautstark meine Standpunkte vertreten.

Jetzt wurde ich stiller. Mir wurde bewusst, dass ich, wenn ich hier bestehen wollte,

viel zu lernen hätte und zwar nicht nur sprachlich.

Auch typografisch hatte ich einiges nachzuholen. In der Schule hatten wir zwar analysiert

und experimentiert, aber fundierte Referenzen fehlten mir, und ich hatte keine Ahnung,

wie man komplexe Texte strukturiert und in Formen bringt,

die visuell interessant und gleichzeitig lesbar sind.

 

Dennoch durfte ich, kaum in Paris angekommen, an der Aufnahmejury

für das damalige Atelier National de Création Typographique (ANCT) teilnehmen.

Dort sollte ich Ruedi Baur vertreten. Zur Jury selber konnte ich herzlich wenig beitragen.

Zu eingeschüchtert war ich vom Pathos und dem Diskurs der anderen Juroren,

die sich hier offensichtlich wohler fühlten als ich.

Dennoch sollte mir dieser Tag unvergesslich bleiben.

Die Schule für Schriftentwurf war in den Gebäuden der Imprimerie Nationale untergebracht.

Dies war eine Art Museumsbetrieb. Da standen noch die Möbel mit den Setzkasten

und die alten Maschinen: Linotype, Monotype und Buchdruckpressen

in unterschiedlicher Größe, alle bestens unterhalten.

Noch immer wurden hier Schriftgraveure, Gießer und Setzer ausgebildet,

um das „Savoir-faire“ das hier bestehende „Patrimoine“ zu pflegen.

Gedruckt wurden schöne Bücher, Luxusausgaben klassischer Werke.

 

Die Imprimerie Nationale besaß Bleischriftsätze der unterschiedlichsten Sprachen,

ägyptische Hieroglyphen waren genauso vertreten wie chinesische Ideogramme.

Die Sammlung reichte bis 1640 zurück, als die Imprimerie Royale gegründet worden war.

Deren Fundus war noch immer vorhanden.

Louis XIV hatte sich zum Beispiel eine Schrift entwerfen lassen,

die ausschließlich für seine persönlichen Communiqués hatte verwendet werden dürfen

und deren „L“ durch einen zusätzlichen Schrägstrich ausgezeichnet waren.

Dieser Zeichensatz stand unter Denkmalschutz, als wäre er ein architektonisches Monument.

Nach der Besichtigung der Druckerei waren wir in der Betriebskantine

zum Mittagessen eingeladen.

Zu Entrée, Plat, Fromage und Dessert wurde reichlich Rotwein serviert.

Das gefiel mir, und ich war beeindruckt. Irgendwie wurden die Dinge hier mit größeren,

großzügigeren Kellen angerührt, als ich es mir aus dem zwinglianischen Zürich gewohnt war.

Es gab also durchaus eine französische typografische Tradition,

die nun zwar offensichtlich museal geworden war, vielleicht den Anschluss verpasst hatte,

aber Jack Langs Idee, das ANCT, das sich mit zeitgenössischem Schriftentwurf befasste,

in diesem Kontext anzusiedeln, fand ich umwerfend gut.

 

Peter Keller, der damalige Direktor, war Basler.

Allmählich stellte ich fest, dass es in Paris einige Persönlichkeiten gab

oder gegeben hatte, die mit Grafik zu tun hatten und die Schweizer waren.

Ja es schien fast, als würden Schweizer als Grafiker, Schriftdesigner und Typografen
nach Paris auswandern, wie sie es früher etwa als Schornsteinfeger oder Söldner

getan hatten. Schon in den 50er Jahren hatte Adrian Frutiger seine Univers

für die Gießerei Deberny et Peignot gezeichnet und danach 

mit Hans-Jürg Hunziker und Bruno Pfäffli in Paris weitergearbeitet.

Albert Hollenstein, Rudi Meyer, Peter Knapp und Jean Widmer

waren in den 60er Jahren hierher gekommen.

Zu dieser Zeit soll es hier die Berufsbezeichnung „Graphiste“

noch nicht einmal gegeben haben,

stattdessen wurde die Bezeichnung „Dessinateur publicitaire“ verwendet.

Jean Widmer war es denn auch, der die Pariser École Nationale des Arts Décoratifs

reformiert und ihr die Struktur mit Vorkurs und Fachklassen gegeben hatte,

nach dem Vorbild der damaligen Zürcher Kunstgewerbeschule.

 

Wenn ich jedoch mit Leuten sprach, in deren Leben die Visuelle Gestaltung

keine große Rolle spielte, und ihnen sagte, ich sei „Graphiste“, dachten die meisten,

ich würde mit Pinsel und Farbe Plakate malen. Das Bild des Grafikers als Plakatmaler,

wie es Toulouse Lautrec in der Belle Époque getan hatte,

war hier also noch immer vorherrschend, selbst unter gewissen französischen Grafikern.

Sie bezeichneten sich als „Affichistes“ und sahen sich ganz klar als Künstler.

Den Schriftsatz delegierten sie an „Maquettistes“, die als Techniker galten

und in den Druckereien arbeiteten.

Überhaupt fiel mir in Diskussionen oftmals auf, wie hier die „Kunst“ der „Technik“

gegenübergestellt wurde. Dies so zu sehen, war neu für mich.

In meiner vom Bauhaus geprägten Logik stellten diese beiden Kategorien

nicht Gegensätze dar, sondern bedingten einander.

 

 

André Vladimir Heiz:

Plakate – als Masterpiece der Graphik – verbinden Kunst und Techne idealtypisch.

Die Möglichkeit der Vervielfältigung stellt sich den Ansprüchen der Öffentlichkeit.

Sie führen – tiefenstrukturell und ikonologisch – die Tradition der „Kreuzigungen“

und „Annunciazione“ weiter. Plakative Ankündigungen bringen es formal auf den Punkt.

Der illustrative Einfall darf alles, wenn er die affektive und appellative Funktion erfüllt.

Das Plakat bestätigt den gestalterischen Traum globaler Wirkung und lokaler Motive

als Schnittstelle auf einen Blick. Schweizer Grafiker und Grafikerinnen sind gute Beispiele.

 

Ähnlich verhält es sich mit den vielschichtigen Systemen der Information

und den vielseitigen Abläufen der Kommunikation, wobei es der gestalterische Anspruch

mit komplexen Zusammenhängen zu tun bekommt.

Die Figuren und Formen finden kaum mehr auf einem einzigen Träger Platz, der von Welt ist.

Vom Buchstaben zur Schrift, vom Manuskript zum Buch, von der Erscheinung zum Bild,

vom Signet zum Produkt, vom Prototyp zur Serie, jedes Haus braucht ein Dach.

 

Félix Müller:

Die Gebrauchsgrafik, wie ich sie aus der Schweiz kannte war weniger pathetisch,

aber bis ins Detail durchdacht. Sie war nicht nur für einen einzigen Informationsträger,

sondern als System konzipiert, das sich auf eine Vielzahl von Medien anwenden lässt.

Dieser Zugang war den meisten Franzosen fremd.

Meines Wissens gab es 1992, als ich hier ankam, in Paris nur zwei Ateliers,

die in diesem Geist arbeiteten: Visuel Design Jean Widmer und Intégral Concept.

Hierzulande bestand also ein großes Bedürfnis nach Erneuerung,

und die „gestalterische Vision“, die ich mitbrachte, war sehr gefragt.

 

André Vladimir Heiz:

Die „Schweizer-Grafik“ hat Prägnanz im Sinn. Sie ist verlässlich wie ein Uhrwerk.

Sie kann nach Schokolade schmecken. Sie dient indes vornehmlich der Orientierung

und der Organisation. Organigramme spiegeln das Leitbild.

Das graphische Rundum nimmt uns bei der Hand, wir finden uns zurecht im Hier und Jetzt.

Sie sorgt dafür, dass wir den Zug nicht verpassen und in den Himmel ankommen.

Sie „entwirft Programme“; Karl Gerstner macht es eindrücklich vor.

 

Es gab in der Schweiz eine selbstverständliche Kultur des Handwerks,

das sich dem Diskurs weitgehend entzieht.

Müller-Brockmann erzählte es als Gast

in einem meiner Projekte an der Schule für Gestaltung.

Man verdient sein gutes Geld, auch wenn man nicht in aller Munde ist.

In Frankreich hat der Metadiskurs das erste und letzte Wort.

„Le premier degré“ ist verschrien. Es geht selten um die Sache.

Ach, die Macht der Sprache, ja, die Kraft des Bildes!

Die Augenweide der Visuellen Kommunikation hat viele Wurzeln in der Schweiz.

 

Ihre Qualität, ihre sinnlich sinnhafte Ausstrahlung hat ihren Grund

in ihrer ideolektalen Vielfalt und in ihrer notorischen Mehrsprachigkeit.

Man vertraut der Infographie von Romanshorn bis Genf, von Schaffhausen bis Chiasso.

„Univers“ und „Helvetica“: die Bezeichnungen sprechen auf ein visuelles Esperanto an,

das uns alle erreicht. Die Augen sind auf dem Laufenden.

 

„Corporate Design“ bedeutet ursprünglich die Verkörperung und Repräsentation

einer Zugehörigkeit durch visuelle Mittel der Darstellung.

Heute gehen wir dabei von einer synästhetischen Reichweite aus.

Wir können uns im eigentlichen Sinne ein Bild machen.

Wir erkennen, worum es geht; wir wissen, wohin wir gehen. Wir sehen, was zieht,

uns anzieht. Wir fühlen, was passt, zu uns passt. Die Differenz macht die Identität.

 

Das gilt im Besonderen für das Mikrouniversum der Typographie.

Es kommt auf intrinsische Nuancen an, die dazu dienen, einen „Charakter“

mustergültig von einem anderen zu unterscheiden.

Nicht zuletzt erklärt solche gestalterische Kenner- und Könnerschaft,

weshalb der Querschnitt der französischen Institutionen und Organisationen

– vom Centre Pompidou nach Roissy aller et retour –

von einer schweizerischen „Handschrift“ geprägt ist.

Sie vermittelt Identität durch eine sinnstiftende Differenz.

Als Ganzes und durch entscheidende Einzelheiten.

 

Félix Müller:

Mit Pippo Lionni arbeitete ich am Erscheinungsbild des Maison de la Culture d’Amiens.

Das Konzept für diese visuelle Identität war von der kreisförmigen Architektur

des Gebäudes inspiriert. Zusätzlich wurden Zitate von André Malraux verwendet.

Charles De Gaulle hatte ihn zum ersten Kulturminister Frankreichs ernannt.

Malraux war es gewesen, der die Institution „Maison de la Culture“ ins Leben gerufen hatte.

Es gefiel mir, dass ich das Projekt vom Briefpapier bis zum Wegleitungssystem

im Gebäude ausarbeiten konnte. Zur Wiedereröffnung des Maison de la Culture d’Amiens

gab es eine Einladungskarte zu gestalten.

Dabei fiel mir auf, wie wichtig der „protokollarische Teil“ war,

also die Seite, auf der alle Personen genannt wurden,

die an der Spitze der Institutionen von Staat, Region, Département und Stadt standen,

deren Budgets diese Neueröffnung ermöglicht hatten und die nun das „Vergnügen“ hatten,

die Empfänger der Karte zu diesem Ereignis einzuladen.

Sogar Jacques Toubon, der damalige Kulturminister, wurde erwartet.

Das Manuskript, das ich zur Gestaltung erhielt, war seltsam gegliedert.

Da waren mehrere kleine Abschnitte, deren Text eingemittet war,

aber nicht auf einer Achse, sondern auf mehreren, verschoben zueinander stehenden

und erst noch auf unterschiedlichen Höhen. Es sah furchtbar aus, und ich gab mir alle Mühe,

meinen Layoutvorschlag etwas „besser“ zu gestalten.

 

Kurz nachdem ich meinen Vorschlag zur Korrektur gefaxt hatte,

erhielt ich einen Anruf des Kommunikationschefs, der mich anfuhr,

ob ich eigentlich wahninnig geworden sei und nicht wisse,

wie der Krieg in Jugoslawien ausgebrochen war.

Die „Unordnung“ in der Word-Datei war also nicht zufällig,

sondern musste minutiös eingehalten werden, entsprechend der Hierarchie und der Grade

der genannten Personen. Ein Nichtbefolgen wäre als grober Fehler angesehen worden,

auch wenn das visuelle Resultat noch immer schrecklich war.

Dies zeigte mir, welche Wichtigkeit hierzulande Titeln und Hierarchien beigemessen wird

und gleichzeitig wurde mir klar, dass öffentliche Aufträge

immer auch politische Dimensionen haben.

 

André Vladimir Heiz:

Visualisierungen sind der untrügliche Spiegel einer Ordnung.

Wie Clément Rosset in seinem brillanten Essay – bei Minuit – aufzeigt,

ist und bleibt das Lieblingswort der Franzosen „le pouvoir“.

Was sie damit meinen, sieht man ihrer grafischen Kultur an.

Aber manchmal gelingt es eben einem begnadeten Schweizer Gestalter, Staub aufzuwirbeln.

Keine Angst: „le ridicule ne tue pas“, auch wenn der Kaiser nackt ist.

Kein Sturm im Wasserglas? Das wäre mir ja eine Première!

Es gäbe ja schlicht und ergreifend nichts mehr zu sagen.

 

Félix Müller:

Seit 15 Jahren betreibe ich nun mein eigenes Atelier

und arbeite sehr oft für kulturelle Institutionen.

Immer wieder versuche ich Konventionen in Frage zu stellen.

Je nach der beim Auftraggeber jeweils zuständigen Person

stoße ich damit manchmal auch auf offene Ohren.

Parallel zu dieser Tätigkeit unterrichte ich Typografie an der Université Paris 8.

Ich empfinde es als sehr bereichernd, meine gestalterischen Arbeitsprozesse

mit der Tätigkeit als Lehrer zu verbinden.

Meine Kompetenzen, Erfahrungen und Referenzen vermitteln zu können,

setzt die bewusste Auseinandersetzung mit meiner eigenen Produktion voraus.

Davon profitieren nicht nur die Studierenden,

sondern auch für mich ist dies immer wieder sehr inspirierend.

In meiner Arbeit bin ich von meiner Herkunft und meiner Ausbildung

natürlich sehr geprägt und es ist nicht zuletzt dir verdanken,

lieber André, dass heute auch ich ehemalige Studierende habe,

die am Anfang einer vielversprechenden Karriere stehen.

 

www.felixmuller.com