André Vladimir Heiz, Mittwoch, 1. Januar 2025

Tage statt Bücher: Carpe diem

Kurz gefasst:

° Tage-Bücher halten am Leben. Und umgekehrt.

° Sie spiegeln die Möglichkeiten und Bedingungen, die das Dasein eröffnet.

° Die prospektive Ausschau sucht das Weite.

° Die retrospektive Meditation kommt auf den Grund.

° Die Erkenntnis vertraut der Einsicht.

° Allein, das Vorgehen ist an die Formen der Darstellung gebunden:

            Die Spur der Schrift läuft immer linear vorwärts.

            Gegen den Strom zu schwimmen, gelingt nicht.

            Die Hand folgt dem Diktat der Chronologie.

° Ich habe mich jahrelang an das Ritual und mein Tagebuch gehalten.

° Meine wissenschaftliche und künstlerische Auseinandersetzung indes

            ist zunehmend mit Grenzen der Darstellung in Berührung gekommen.

            Die Schwächen der Chronologisierung sind empfindlich spürbar!

° So habe ich eines Tages angefangen,

            den Fluchtpunkt meiner Gedanken auf grosse Blätter auszurichten.

° Diagrammatische Visualisierungen und Topologien

            haben das klassische Tagebuch abgelöst.

° So komme ich in einer anderen Form auf den Punkt.

            Als Zeichen der Versuchung und des Versuchs.

 

1. Auf der Fährte

Schreiben ist eine Erfindung der Sesshaften.

Der Körper wird in Haft genommen; die Hand setzt auf Ausdauer.

Da sitze ich, also schreibe ich: in mein Tagebuch.

Zur Erinnerung: nicht vergessen! Das ist das auslösende Moment.

Die Agenda und To-Do-Listen sind der Zeit schon voraus.

Prospektive Aussichten besprenkeln die Zukunft.

Die retrospektive Blickrichtung dagegen besinnt sich auf Anhaltspunkte,

die sich die Vergangenheit im Gedächtnis bewahrt. Ein offenes Archiv!

 

 

2. Der Reihe nach

Und die Gegenwart? Das Tagebuch ruft zur Besinnung.

Ich schreibe, also bin ich! Nur da bin ich damit noch nicht.

Die Vergegenwärtigung schrammt an der Jetztzeit vorbei.

Was die Feder als Spur auf dem Papier hinterlässt,

schwärmt in alle denkbaren Richtungen aus.

Die Einbildung sucht die Grenzen außer Kraft zu setzen.

Auf den Punkt kommt sie damit nicht.

Auch wenn er nach jedem Satz gesetzt wird.

Doppelpunkt: Morgen ist auch ein Tag.

Die Fährte wird wieder aufgenommen!

Sie verpasst die Ankunft in der Wirklichkeit,

gerade weil sie in der unermüdlichen Fortsetzung dem Ende trotzen will.

Angeschrieben wird ausdrücklich gegen die Vergänglichkeit,

sobald das Leben dem ABC auf den Fersen folgt.

Der Grund findet nicht immer zu jener Figur, die das Dasein ausmacht.

 

3. Schreien oder Schreiben?

Leben oder Lesen? Ein einziger Buchstabe macht den Unterschied,

Um alles oder nichts scheint es zu gehen.

Vor allem in jungen Jahren, wenn das Ich mich sucht.

Zwischen den Zeilen kommt es auf gewagte Sprünge.

Der Körper der Schrift verhilft zu Konturen und Konsistenz.

Das Ich zeichnet sich ab; es bildet sich ein.

„Werde der, der Du bist!“ rät mir der Lyriker Pindar.

Andere Autoren und Schriftstellerinnen stehen Pate.

Das Schattenspiel lässt die eigene Person in Erscheinung treten.

Visionen wollen hoch hinaus; Gedanken finden Tiefenschärfe.

Die Selbst-Beobachtung greift zu den Sternen.

Die Erkenntnis sucht den Boden unter den Füssen.

Hin- und hergerissen zwischen der Verführung der Vorstellungen

und den möglichen Formen ihrer Darstellung.

Zwischen Eindruck und Ausdruck – jener existentiellen Schnittstelle,

wo die Schwingungen der Wahrnehmung stattfinden.

 

4. Mit einem Wort: ich

Indem die schriftliche Fixierung überhand nimmt,

macht sie die zeitliche Ordnung zur grammatikalischen Regel.

Die Sprache hat das erste und letzte Wort, Seite um Seite.

Sie ist im Begriff, das eigene Sein scheinbar in die Griff zu bekommen.

Sie will dem unaufhaltsamen Lauf der Dinge die Stirn bieten.

Sie rennt den Ereignissen hinterher oder eilt dem Geschehen voraus.

Der unmittelbare Augenblick entfällt indes der Form der Darstellung.

Die Gegenwart wird durch das Medium in Haft genommen.

Die Vergangenheit und die Zukunft bestimmen die Orientierung.

Bin ich durch das, was ich festhalte, auch tatsächlich gemeint?

Das Tagebuch – als Doppelgänger meiner selbst –

ist eine willkommene Begleiterscheinung.

Das essentielle und existentielle Motiv ist die Motivation!

Das dialektische Manöver ist mit meinem Ich auf Du.

Die Vereinbarungen und Aus-Ein-Ander-Setzungen bieten Hilfe an.

Das eigene Ich bleibt ein Notfall! Es bedarf der Zuwendung.

Wort für Wort – jeder Satz ein Ersatz.

 

5. Und jetzt?

Plötzlich stellt sich eine Panne ein. Oder eine Lücke tut sich auf.

Im alltäglichen Ablauf der Ereignisse.

Die gewohnte Fortsetzung ist mir nicht mehr zugesichert.

Die Anschlusshandlungen, auf die Verlass sein soll,

sind in Frage gestellt. Es geht nicht weiter.

Einfach so, so einfach, wie das ominöse Es selbstverständlich verspricht.

Was soll ich nun machen?

Gedanken kommen dazwischen; Überlegungen breiten sich aus.

Die Chronologie erleidet einen spürbaren Einbruch.

Der rote Faden ist gerissen. Wie am Schnürchen geht nichts.

In solchen Augenblicken wird offensichtlich,

dass die chronologische Fügung eine Voraussetzung ist,

die als solche in Brüche gehen kann.

Ich allein muss nämlich die Lücke oder die Panne überbrücken.

Manchmal werde ich gegen meinen Willen gestört.

Zwischenfälle reißen mich aus heiterem Himmel aus dem Zusammenhang.

Ich muss Handlungsfäden sinnstiftend miteinander verknüpfen.

Nur so gelingt es mir, über die Runden zu kommen.

Die Chronologisierung täuscht indes Kohärenz vor,

wo ich mich ununterbrochen einer Komplexität stelle.

Die Simultaneität und Ubiquität der Eindrücke sind damit nicht aus der Welt.

Die Wahrnehmung – mit ihren unterschiedlichen Standpunkten –

hat das Wort und seine Gefolgschaft bereits überholt.

Die Sprache hat die lebensweltliche Archäologie der Sinne

längst aus dem Augen verloren.

 

 

6. Halt auf Verlangen

Das Eine um das Andere: zwischen Geburt und Tod

ereignen sich die Schläge des Lebensatems der Reihe nach.

Diese Chronologie ist gegeben: wie die Linien einer Hand.

Im Alltag jedoch liegt es an mir, Fuge und Fügung zu bewerkstelligen.

Diese Chronologie, die das Dasein prägt, ist gemacht!

Mein Selbst redet ein Wort mit, es macht Sachen zur Tat.

Unvermittelt mag indes der Eindruck aufkommen,

das Leben bestimme mich in seinem Lauf mehr als ich mein Leben selbst.

Die Folge hat das Heft in der Hand; und ich habe das Nachsehen!

Die Möglichkeit, mir Alternativen zu eröffnen, fällt zwischen Stuhl und Bank.

Die Zeit läuft mir – in ihrem chronologischen Duktus – davon.

Das Tagebuch hält mir ein unbeschriebenes Blatt vor Augen.

Damit kann ich wieder etwas anfangen. Von vorne. Anders.

Das Moment der Reflektion stellt sich ein. Mir zuhanden!

Ich kann auf alles zurückkommen, was mich bewegt.

Was mich plagt, was mich umtreibt, kommt zur Sprache.

Allein, die Chronologie holt mich auch beim Schreiben immer ein.

Ein Wort gibt das andere: Die Syntax ist unerbittlich.

Der Schwarm der Gedanken muss sich der linearen Struktur fügen.

 

7. Parallele Sphären

Erzählen, was zählt, geht nicht immer.

Die bedeutenden Werke des 20. Jahrhunderts

sind aus der Linearisierung längst ausgebrochen.

Hinter sich gelassen haben sie auch den logisch-kausalen Zwang.

Die Sprache ist an die Grenzen ihrer Glaubwürdigkeit gestoßen.

Ernstzunehmende Stimmen behaupten,

die Handschrift könnte aus unserem Blickfeld verschwinden.

Die graphomanische Dimension weicht plurisensoriellen Sphären.

Ilja Prigogine ist die Erkenntnis zu verdanken,

dass zwischen den Zustandsformen von Chaos und Ordnung

eine mikrostrukturelle Gleichzeitigkeit besteht.

Und René Thom hat eindrücklich nachgewiesen,

dass unsere geometrischen Repräsentationssysteme überholt sind.

Sie kommen an unsere lebensweltlichen Wirklichkeiten nicht mehr heran.

Und das Tage-Buch?

Ist es am Ende seiner illustren Vervielfachungen?

Haben sich die unendlichen Fortsetzungen in der Redundanz aufgelöst?

 

 

8. Bezeichnet – aufgezeichnet - ausgezeichnet

Das offene Buch der laufenden Tage ist ein privilegierter Aufenthaltsort.

Ich nehme in der Lücke, die mir die Zeit zugesteht, Platz.

Ich bedinge mir Losigkeit aus. Ohne Vorbehalt.

Ich behandle, was mir als Handelnder im Alltag entfällt.

Analytisch akribisch, poetisch unvoreingenommen,

nehme ich die Verfolgung meiner selbst auf.

Im Rückblick, der sich Situationen vergegenwärtigt.

Immer fehlt etwas: Die Notate halten sich über den Mangel auf.

Im freien Ausblick auf Künftiges, das sich unter der Hand entwirft.

Notizen kommen zum Befund: So ist es! Das steht da. Genau so.

Meditativ insistierend dagegen: Es könnte auch anders sein!

Ganz anders: Das gilt auch für die Formen der Darstellung.

Zurückgezogen in einem Haus über dem Comersee,

haben sich meine Ausführungen zunehmend der Chronologie entzogen.

Alles in mir hat sich gesträubt, auf diese Verflachung noch einzutreten.

So kam es mehr und mehr zu kunstvollen Aufzeichnungen.

Auf einzelnen, grossen Blättern.

Thematisch augenfällig gebündelt.

 

9.Topographien statt Chronologien

Tagebücher haben mein Leben begleitet; eigene und jene von Anderen.

„Meine“ gesammelten Werke ruhten in einem Archiv.

An meinem 60. Geburtstag hat mich ein Tabula rasa erfasst.

Das Perpetuum mobile eigener Spiegelungen hatte sich erschöpft.

Ich habe die Jahre aus Papier kurz noch einmal überflogen,

um sie endgültig dem Zeitlichen anheimzugeben.

Ich habe mich der Last entledigt; ich habe sie weggeworfen.

Ich habe mich auch von allem Anderen getrennt, das das Leben

hinter meinem Rücken und vor meinen Augen angehäuft hatte.

Als Nomade bin ich aufgebrochen, um von vorne zu beginnen.

Bis zu meinem letzten Atemzug ein Anfänger zu bleiben,

ist ein Credo, das mich beherzt belebt.

Manchmal aber drängt sich ein leeres Blatt wieder auf.

In aller Seelenruhe bespiele ich Zeit und Raum.

Ich habe es ja bekanntlich auf Zeichen abgesehen. In aller Form.

Im realen Leben, in medialen Darstellungen – und in meinen Träumen.

Und weiter im Text!