André Vladimir Heiz, Donnerstag, 1. August 2024
° Ein Treppenhaus, das in die Jahre gekommen ist.
In einem älteren Haus im Weichbild von Biel.
° Wie lassen sich die Flecken am Boden
und die Zeichen der Zeit gestalterisch integrieren?
° Durch einen einfachen Kunstgriff:
Die Teppiche werden wie eine Leinwand behandelt.
Malerische Elemente beleben den Boden unter den Füssen.
So entsteht ein ansprechender Gesamteindruck.
° Ein Bilderreigen an der Wand nimmt dabei
das Merkmal der Treppe spielerisch auf.
Wir sind es gewohnt, Treppenhaus zu sagen.
Es wird als ein in sich geschlossener Raum betrachtet und behandelt,
der seine Funktion als Binnenort idealtypisch erfüllt:
Es erschliesst im Schrittmass der Stufen die einzelnen Wohnungen.
Ein Haus im Haus, besser: ein Vorhaus oder Vorraum,
der von den Bewohnern und Bewohnerinnen benutzt wird,
um nach Hause zu kommen: in die eigenen vier Wänden.
Die Wohnungstüre macht dicht. Sie ist nicht für jede und jeden offen.
Wir gehen durch die Türe in unser eigenes Reich, den Vorraum im Rücken.
Das Treppenhaus ist ein Durchgang, ein Auf- und Abgang.
Im Gegensatz zum privaten Ambiente, will es eine neutrale Zone sein.
Als Übergang aber können sich die Grenzen als fliessend erweisen.
Im Alltag. Im Gebrauch. Aus lauter Gewohnheit.
Die Treppenabsätze vor den einzelnen Wohnungen werden
als Vorplatz verstanden, der zum eigenen Kosmos gehören will.
Im Handumdrehen. Das ist ja in der Tat naheliegend!
So bleibt nicht nur das Schuhwerk häufig draussen vor der Tür,
auch Schirmständer, allerhand Gestelle, Trottinette oder gar Fahrräder
nehmen den Vorraum nach eigenem Gutdünken in Beschlag.
Platz da! sagen die Gegenstände und bleiben im Vorfeld stehen.
So sammelt sich mit der Zeit ein Haufen an Dingen an,
die aus Not, aus Bequemlichkeit oder Nachlässigkeit
den Raum erobern. Da sind sie nun mal. Da bleiben sie halt.
Die Winterschuhe übersommern gelassen auf dem Absatz.
Picknickkörbe und Rucksäcke stellen Ausflüge in Aussicht.
Fischerruten warten auf den nächsten Fang im See.
Hüte oder gar Jacken sind auf den Ausgang im Regen gefasst.
Auf dem Mobiliar schiessen auch Zimmerpflanzen ins Kraut.
Bastler und Künstlerinnen für den Hausgebrauch zeigen,
was sie können, ihrem Bilde gleich!
Allerlei Dinge nehmen überhand. Die Ordnung läuft aus dem Ruder.
Im Vorübergehen nehmen wir ungewollt Anteil an einem Eigenleben,
das sich im Treppenhaus vor aller Augen zunehmend ausbreitet.
Das ist – wohlverstanden – nicht jedermanns Sache.
An der Grenze von privat und öffentlich scheiden sich die Geister.
Ein Treppenhaus in einem kleinen, schmucken Haus mit drei Stockwerken.
Vor den Türen herrscht ein Durcheinander an Dingsbums,
ein Mischmasch an Allerhand, ein Zuviel an Auch-das-noch.
Sachen machen halt so Sachen: Sie ziehen weitere Dinge an.
Dagegen wollen entsprechende Massnahmen ergriffen werden.
Sanft sollen Zeichen dem Auswuchs an Vorhandenheiten zuvorkommen!
Damit eine annähernde Ordnung nicht immer wieder in ein Chaos ausbricht.
Die beiden unteren Stockwerke verbindet eine Treppe aus Stein.
In den dritten Stock führt eine Treppe aus Holz.
So war es im ursprünglichen Zustand.
Die Treppen aus Stein sind nun mit einem Industrieteppich belegt.
Die obere Treppe aus Holz ist mit einem Teppich aus Wolle bespannt,
den man eher im Inneren einer Wohnung erwarten würde.
Ein weiterer Teppich der robusteren Art liegt im Eingang aus.
Die Zeit hat Spuren und Zeichen hinterlassen.
Es ist den Böden anzusehen. Kein Fall für empfindliche Augen!
Die Reinigung der Teppiche allein wird die Saat der Flecken
und die Merkmale der Abnutzung nicht zum Verschwinden bringen.
Eine radikale Gesamtsanierung kommt derzeit indes nicht in Frage.
Nichts zu machen! So sieht es auf den ersten Blick aus.
Gleichwohl legt mir der Hausbesitzer die Sache ans Herz.
Die Gegebenheiten und ihre Bedingungen sind klar.
Was lässt sich damit anfangen? Findet sich ein kühner Dreh,
der die Kunst der Verwandlung konkret anwendet?
Gibt es für dieses Problem eine einfache, kostengünstige Lösung,
die dem Treppenhaus als Ganzes eine einladende Ausstrahlung verleiht?
Mit ansprechenden, einleuchtenden und geeigneten Mitteln?
Ein Konzept beschreibt den Entstehungsprozess.
In allen Einzelheiten.
Ich erinnere mich an den denkwürdigen Satz von Robert Musil.
In seinem „Mann ohne Eigenschaften“ schreibt er:
„Wenn man gut durch geöffnete Türen kommen will,
muss man die Tatsache achten,
dass sie einen festen Rahmen haben:
dieser Grundsatz, nach dem der alte Professor immer gelebt hatte,
ist einfach eine Forderung des Wirklichkeitssinns.
Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln,
dass er seine Daseinsberechtigung hat,
dann muss es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann.“
Flecken! Das ist eine Steilvorlage für einen Semiotiker wie mich.
Ich bezeichne sie gar als Archetyp eines unwillkürlichen Zeichens.
Der klassische Fall ist der Klecks von Tomatensauce
auf einem weissen Kleid oder Hemd. Eine Schandmal! Ein Ärgernis!
Meistens wissen wir nicht genau, wie das passieren konnte.
Der Unfall, Vorfall oder Zufall ist aber offensichtlich nicht zu übersehen.
Flecken fallen auf! Flecken stören.
Sie machen einen schlechten Eindruck.
Gleichwohl haben genau solche Flecken etwas Merkwürdiges.
Als Zeichen kommen sie auf den Punkt einer alltäglichen Geschichte.
Manche Flecken bleiben haften. Auf dem Kleid. In der Erinnerung.
Sie verschwinden auch mit Waschen nicht. Sie erinnern an das Ereignis.
Sie kommen auf ein Geschehen zurück, an dem sie festhalten.
Das ist mit den Teppichen in diesem Treppenhaus auch der Fall.
Ich bleibe bei den vielen Flecken. Als auslösendes Moment.
Ich versuche damit, aus der Not eine Tugend zu machen.
Ich lasse Flecken Flecken sein. Sie sollen bleiben, was sie sind.
Davon gehe ich aus. Sie bilden nämlich einen Akzent.
Sie haben durchaus eine appellative und dekorative Funktion,
wenn sie bewusst und entschieden gesetzt werden.
Am notorischen Flecken stört ja nur die Willkür der Einmaligkeit.
Er ereignet sich ohne mein Dazutun. Und alle sehen es!
Betonte Punkte auf Stoff aber werden nicht als Flecken empfunden.
Flecken in diesem Sinne werden zum Grund-Element
unterschiedlicher künstlerischer Interventionen und Veränderungen,
die den Teppichen ein neues Eigenleben einhauchen sollen.
Die Natur macht es vor: Vorbildlich! Mustergültig
Die Wiederholung macht es aus. Die Zeit hinterlässt ihre Patina.
Macht die Natur Flecken? Und was macht Kunst daraus?
Es gab in diesem Treppenhaus eine Unzahl an Flecken.
Ich liebe Filz. Damit wollte ich zunächst vorhandene Makel überkleben.
Proben ergaben, dass diese Teile zu Stolpersteinen werden könnten.
Feiner Baumwollstoff machte die Sache nicht viel besser:
Es sah immer noch aufgesetzt aus. Durch die Materialität.
Heureka! Wie wäre es, den Teppich selbst wie eine Leinwand zu nutzen?
Eine sixtinische Kapelle, die die Decke mit dem Boden vertauscht!
Ich entwickle ein Inventar an geometrischen Elementen.
Sie werden ornamental und arabesk platziert und kombiniert.
Nach allen Regeln der Kunst. Pinsel und Pigmente gehen an die Hand.
Die Anordnung der einfachen Motive hat es in sich:
Im Auf und Ab können die Augen und Füsse entscheiden,
ob sie auf Zeichen stehen oder daran vorübergehen.
Beide Wege lassen sich nehmen, Schritt für Schritt im Augenmass.
Es ist im Übrigen klar, dass neue Flecken entstehen werden.
Im Fall der Zeit. Die Werkstatt bleibt offen für weitere Verwandlungen.
Weitere künstlerische Interventionen in situ und auf den Knien
sind durchwegs vorauszusehen. Im Laufe der Wochen und Tage.
So nämlich werden Flecken zu heiteren Zeichen. Sie stören nicht mehr.
Im Nachhinein sehen sie einfach ansehnlicher aus.
Für die Wände entstanden adäquate Bild-Stücke,
die sich auf der Schwelle zwischen Natur und Kultur bewegen
und das Moment der Treppe in die Komposition einbeziehen.
Die Montagen – ganz im Sinne von Theodor Adornos Betrachtungen –
begleiten den Gang der Augen im Wechsel der Standpunkte.
Sie eröffnen einen Reigen an unterschiedlichen Eindrücke,
die sich auf-ein-ander beziehen und auf den Boden anspielen.
Der originale Bilderreigen an der Wand lässt sich hier einsehen.
„Die Strudelhofstiege oder Melzer und die Tiefe“
ist ein meisterhaft komponierter Roman,
der ausgerechnet in meinem Geburtsjahr erschienen ist.
Der unvergleichliche Stilist Heimito von Doderer
stellt darin eine sagenhafte Strassentreppe
im 9. Bezirk der Stadt Wien in den Mittelpunkt.
Stufe um Stufe fliessen die vielschichtigen Erzählstränge
mit ihren illustren Figuren dicht zusammen.
Die Architektur der Treppe verführt zu einer Archäologie
des Existentiellen. Das Leben ist eine Folge von Gesichtern!
„Schau mit beiden Augen, schau!“ ermahnt uns Georges Perec
in seinem fulminanten Sprachspiel: „Das Leben – eine Gebrauchsanweisung“.
Das Motiv des literarischen Puzzles bildet ein fiktives Haus
mit zehn Etagen im 17. Arrondissment in Paris.
An die hundert Personen lässt der Hausbesitzer Gratiolet
zur Sprache kommen. Obschon akribisch verfolgt,
verlieren sich die Fäden allmählich im Ungefähren.
Die Anspielungen und Verweise nehmen kein Ende.
Die Spuren lösen sich spielerisch im Hypothetischen auf
und entziehen sich dem hilflosen Versuch des Erzählerischen.
Leben und Lesen – ein einziger Buchstabe macht den Unterschied!
Zeichen sind dabei immer ein Hinweis, eine Einladung,
mit dem alltäglichen Leben Schritt zu halten.
Ein einziges Zeichen kann auf den Punkt kommen:
Und eine Geschichte entwickelt sich daraus .
Das Indiz lässt den Gedanken freien Lauf, um im Alltag anzukommen.
In diesem Haus, in dem ich seit einiger Zeit unter dem Dach wohne,
bleibt vieles ein Rätsel, ein Geheimnis oder aber ein offenes Buch.
Ich kenne die vorangehenden Bewohner zwar nicht;
am Werk im Treppenhaus hätte indes jeder Flecken am Boden
das auslösende Moment für eine lebensnahe Geschichte sein können,
die dahinter und darunter nichts anderes vermutet als Lebenszeichen.
Ein Haus: Es steht in Bözingen in der Schweiz.
Es wurde 1929 gebaut, an der Schnittstelle von Dorf und Land.
Wikipedia berichtet, dass Bözingen, französisch Boujean,
flächenmässig der grösste Ortsteil der Stadt Biel ist.
Vom Bözingerberg im Rücken eröffnen sich heitere Aussichten
auf den Bieler-, den Murten- und den Neuenburgersee.
Bei aufgeklärtem Wetter ist der Alpenkranz zu sehen.
Ein Rösslitram verband ehemals die Peripherie mit dem Zentrum.
Bözingen war ein stattliches Strassendorf. So sagt man in der Schweiz.
Es wurde 1917 nach Biel eingemeindet.
Aus der legendären Taubenlochschlucht sprudelt die Schüss.
Ihre Ufer wurden während der letzten Jahre renaturiert.
So heissen nun eindrückliche Bachlandschaften und Wege
Spaziergänger und Flaneure wie Robert Walser willkommen.
In einem Naherholungsgebiet, wie es heute heisst.
Spielende Kinder erobern sich die Bachufer, die lauschigen Haine
und einladende Plätze zum Spielen.
Von kleinstädtischem Flair nach französischer Manier
zeugt die Allée de la Champagne, die nach Biel führt.
Längst ist Boujean ein Quartier, das nahtlos in die Stadt übergeht.
Aber die Gegend behält sich eine eigene Geschlossenheit vor;
das friedliche Viertel ist eine kleine Welt für sich.
Wenig Verkehr, stille Strassen und Wege zwischen den Häuserzeilen.
Unterwegs zum Einkaufen fallen Grüsse im Vorübergehen.
Die Mit-Menschen hier kultivieren ihre Zugehörigkeit -
auf dem Hintergrund ihrer unterschiedlicher Herkunft.
Die künstlerische Intervention im Treppenhaus
wurde von den Bewohnerinnen und Bewohnern
en passant mit Freude aufgenommen.
Die Zeichen erfüllen durchwegs einen weiteren Zweck:
Das Treppenhaus ist nun keine Zwischenablage mehr!