André Vladimir Heiz, Montag, 2. Mai 2016

Als Nomade an der Grenze zur Identität

Ich  NichT


    "Ich suche nicht, ich finde.
    Suchen, das ist das Ausgehen von alten Beständen
    und das Finden-wollen von bereits Bekanntem.
    Finden, das ist das völlig Neue.
    Alle Wege sind offen - und was gefunden wird, ist unbekannt.
    Es ist ein Wagnis, ein heiliges Abenteuer.
    Die Ungewissheit solcher Wagnisse
    können eigentlich nur jene auf sich nehmen,
    die sich im Ungeborgenen geborgen wissen,
    die in der Ungewissheit geführt werden,
    die sich vom Ziel ziehen lassen
    und das Ziel nicht selbst bestimmen."

                                             Pablo Picasso

 

Gehen und verstehen:

                                                                          Für meinen Freund Theo Meister,
                                                                          ohne den ich hier nicht angekommen wäre:

 

Nomade wird man mit Leib und Seele.

Den eurpäischen Kopf lässt man am besten zuhause, der steht nur im Weg. 

Das vorliegende Essay bringt zur Sprache , wie Hirn und Herz unterwegs

mit Grenzen in Berührung kommen.

Was sagen schon „Land“ und „Karten“, „Mensch“ und „Bild“ auf dem Papier?

Was bedeutet noch Herkunft? Leben wir nicht alle längst schon in der Diaspora?

Brauchen wir noch Pass und Wort?

Ist in der scheinbaren Zugehörigkeit eine Lebensversicherung inbegriffen?
Wohin gehen wir? Das ist die Frage der Zukunft.

Sie zieht – leibhaftig – unsere bisherigen Vorstellungen in Mitleidenschaft.

Wohin gehören wir? Was gehört uns? Was gehört sich? Offene Fragen!
Auf dem Wege in die Utopie ist es ratsam,

die herkömmlichen Orientierungs- und Referenzsysteme zu vergessen –

und auf die unmittelbare Wahrnehmung zu vertrauen,

bevor ihr ein Urteil oder ein intellektueller Diskurs ins Wort fällt.

Als Nomade bleibe ich Anfänger.

Morgen sieht nämlich alles anders aus.

 

1. Ohne Grund

Aufbruch
Ich schreibe: „Ich“. Hat ein Nomade noch ein Ich? Ich nICHt.

Damit bin ich aufgebrochen. Ich bin seit  fünf Jahren unterwegs.

Im Klartext: Ich habe keinen Wohnort und keine Habe mehr.

Alles, was mir gehörte, habe ich weitergereicht.

Eine gewichtige Bibliothek und alles, was man als Europäer halt so hat.

Andere Menschen wissen nun die Schönheit dieser Dinge auf Zeit auch zu gebrauchen.

Keine Sorge.
Wie vertragen sich Haben und Sein? „Was können wir schon mitnehmen?“

Die Frage stellt sich auf der ganzen Welt angesichts des Todes. Oder auf der Flucht.

Gehörte, was mir gehörte, auch zu mir? Was gehört sich?

Ich ziehe die Ungehörigkeit jeder Zugehörigkeit vor. In aller Form.
„Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, schreibt Theodor Adorno

in seinem Sprachspiel Minima moralia.

Der Satz bildet das Ende eines Abschnittes, der mit  Asyl für Obdachlose überschrieben ist.
Als Nomade beginnt alles damit, den Zugriff der Gegensätze und die Grenzen

der gebräuchlichen Orientierung ausser Kraft zu setzen.

Was heisst schon richtig oder falsch, eigen oder fremd?

Den Ballast, den ich in meiner Wohnung Tag für Tag unter der Hand vor Augen hatte,

bin ich leichterdings losgeworden.

Wie aber entsorge ich meine Vorstellungen, die Hirn und Herz belagern?

Wie befreie ich mich von überlieferten Voreinstellungen, die mir im Wege stehen?


Ankunft
Ich bin Nomade geworden. Das bin ist mir suspekt.

Und das Nomadische findet über die Metapher nicht hinaus.

Ich habe eine Herkunft – zumindest auf dem Papier.

Sie bringt auf den Punkt, was das Leben über Generationen hinweg als Lauf hinterlässt.

Zweisprachig und zwiespältig ist mein Hintergrund. Ein astreiner Stammbaum liegt nicht vor.

Auch über Dorfgrenzen hinweg gibt es Les liaisons dangereuses.

Manchmal genügt es, einen Fluss zu überqueren, um in einem anderen Land anzukommen.
Kann ich Nomade werden?

Gibt es hilfreiche Einführungen und sinnstiftende Übungen für Anfänger?

Gilt es, über sieben Brücken zu gehen? Komme ich weiter,

wenn ich täglich den Bus bis zur Endstation Sehnsucht nehme?

Es gibt für Nomaden keine Ausbildung. Es werden keine Bologna-konformen

Master-Studiengänge angeboten, obschon diese eigenwillige Lebensform

die leitbildenden Begriffe wie mobil, flexibel,

transdisziplinär und nachhaltig idealtypisch abdeckt.
Wer aber würde sich in einem Gremium anmaßen,

einen künftigen Nomaden aufzunehmen oder abzulehnen?

Wären Blasen an den Füssen ein überzeugender Nachweis?

Entscheiden über die Zulassung jene, die so schön darüber reden

und so wenig davon verstehen?

Auf einem vorüberfahrenden Bus in München steht schwarz auf weiss:

Du kannst die Zukunft lernen. Will ich als Nomade noch Fortschritte machen?
Mein Körper, dieser zuverlässige Gefährte, trägt mich bei allen Sinnen durch die Welt.

Das ist es genau. Und ich habe das Nachsehen. Auch in Zukunft.

 


Der Spur nach
Nach einigen Monaten hat sich das Bewusstsein an die Allgegenwärtigkeit gewöhnt.

„Da bin ich ja“, sagt mir eine innere Stimme überall.

Inzwischen ist es gleichgültig, ob sich die Liege in Beirut,

Bern, Basel, Barcelona, Bangkok, Beijing, Berlin, Brüssel oder Bristol befindet.

Die Frage „Wo bin ich?“ stellt sich auch im Schlaf nicht mehr.

Ein Blick aus dem Fenster ist Antwort genug, ohne bei einem Ortsnamen zu verweilen.
Meine Sinne sind für das Wechselspiel von Licht und Schatten hellhörig geworden.

„Wo weht der Wind her?“ Ich kann mich auf meine unmittelbaren Eindrücke verlassen.

Angekommen bin ich, wenn ich den Wechsel der Windrichtung am Geruch in den Gassen

und am Lauf der Wolken erkenne.

Wenn mich jemand auf einer Terrasse um eine Zigarette bittet,

fällt das erkennbare Passwort: „CDC“ – la Clope du Copain.

Die Marke gehört zu mir. Die internationale Gemeinschaft der Raucher steht heute:

Draussen vor der Tür, wie Wolfgang Borchert einst schrieb. Um Feuer wird gebeten.


So ist es nicht gemeint
Was es nicht ist, fällt erst auf, wenn ich erzähle.

Ungewollt gerinnt der Bericht zu einer Odyssee.

Die überlieferten Wendungen sprechen auf das Archaische eines Helden an.

Nein, ich habe Amerika nicht entdeckt.

Nein, ich werde nicht –  von Wind und Wetter gezeichnet –  nach Hause zurückkehren.
Nein, ich bin nicht auf einer Weltreise.

Gewiss, zu Beginn war meine Endlosschleife einer Reise zum Verwechseln ähnlich.

Mein Verhältnis zum Dasein ist jedoch kein touristisches.

Von Bedeutung ist, was sich dem herrschaftlichen Duktus des Erzählens entzieht,

was als Bild aus dem Rahmen fällt.
Geradezu enttäuscht sind meine Zuhörerinnen und Zuhörer,

wenn das Gleichmass der Berichterstattung keine Höhen und Tiefen hat.

Unglaubwürdig wirkt die Aufzählung, wenn sie ohne bedrohliche Situationen

und schreckliche Ereignisse auskommt.

Nein, ich hatte keine Lebensmittelvergiftung.

Dass das Essen in England schlecht sei, ist ein überholtes Vorurteil.

Nein, ich musste keinen heimtückischen Angriff von Kakerlaken im Bad abwehren

oder Wanzen aus den Leinen vertreiben. Nein, ich wurde nicht übers Ohr gehauen.

Der Taxichauffeur in Brüssel schlug keinen unnötigen Umweg ein;

nach Byblos kam ich auf direktem Weg.

Nein, mich hat das Ebola-Virus nicht erwischt. Nein, ich wurde nicht bedroht.

Nein, ich fiel keiner Bombe zum Opfer. Und das Wetter?

„You don’t like the weather in Great Britain? Don’t worry, just wait for ten minutes!“

Ich halte mich darüber nicht auf, ich halte daran nicht fest.

 


Keine Ausrede
Erzählen buchstabiert Erleben zurück.

Ich rede und schreibe über etwas, was ich selbst nicht beherrsche.

Ja, ich habe die Herrschaft über mein Nomadentum nicht.

„Wer bin ich?“  Muss ich darauf selber eine Antwort haben

oder findet das Leben einen Hinweis an meiner Stelle?

„Ich reise um die ganze Welt und bleibe, wo es mir gefällt“:

Das gelingt nur dem deutschen Schlager.
Das herkömmliche Erzählen gaukelt vor, es handle sich bei meinem Entwurf da zu sein

um eine heroische Praxis, durch die ein kleines Ich über die Zufälle und Vorfälle,

Einfälle und Unfälle des Lebens triumphiert. Weit gefehlt.

Es handelt sich um die Schule der Demut.
Wer A sagt, ist in B schon angekommen. Reisen folgt einem Muster.

Beschreibungen sorgen für den roten Faden. Unterwegs zu sein, ist etwas anderes.

Es ist ratsam, dem Erzählen den kleinen Finger nicht zu geben.

Rückfall
Ja, ich habe im Libanon ein Buch geschrieben, das ich nie schreiben wollte.

Es wäre mir früher und anderswo wahrscheinlich nie in den Sinn gekommen.

Die Geschichte hat mich überfallen; die Absicht hat mich übermannt.

Auf einer Busfahrt –  von der Bekaa an der syrischen Grenze zurück nach Hamra –

schrieb sich das Erzählbild in meiner Erinnerung fest. Ich hätte mich dagegen auflehnen,

den denklastigen Einfall wie eine Fliege mit einer Handbewegung verscheuchen können.

Schon zu spät! Ich wurde im Schreiben rückfällig, obwohl ich bereits mit meinem ersten Buch

– wie Joseph Beuys aus der Kunst – aus der Literatur ausgestiegen bin.

Die Literatur ist keine zweite Heimat.

Suche und Sucht stimmen bis auf den einen Buchstaben heillos miteinander überein.  

Stammtisch
Das Manuskript hielt mich ein Jahr lang in Leibeigenschaft.

Tag für Tag sass ich in einem Kaffee in Hamra, in Kaslik oder Byblos und

folgte dem Fluss der Feder. Damit bin ich nicht allein.

Im mittleren Orient sitzen Mitmenschen, die etwas zu tun und zu sagen haben, im Kaffee.

Lehrerinnen korrigieren Schülerarbeiten, Studenten bereiten ihre Prüfungen vor.

Einige überfliegen die Zeitungen, andere sind in Bücher vertieft.

Über alle ideologischen Unvereinbarkeiten hinweg

entsteht eine augenblickliche Gemeinschaft an Ort.
Namik, der Alte, ist immer da. Jeden Tag bringt er mir ein paar Brocken Arabisch bei.

„Was zu schreiben war, ist geschrieben“, sagt er, „alles wiederholt sich!“ 

Er versucht, mir das Unerklärliche am Libanon zu erklären:

Es liegt für dieses prekäre Gleichgewicht keine schriftliche Tradierung vor.

Es gibt also keine verbürgte Geschichte, auf die sich die Gegenwart bezieht.

Landkarten, die auf fremden Schreibtischen entstanden sind,

zeichnen willkürlich Grenzen mit Linien aus,

an die sich das Aleatorische des Lebens nicht hält.

An die zwanzig Glaubensrichtungen versuchen

in einem fragilen Nebeneinander im Alltag auszukommen.

Die Geschichte besteht hier aus Tagesaufnahmen.

Der Staat ist ein Fremdwort, das eine Wirklichkeit bezeichnet, die wenig bedeutet.

„Die Unvereinbarkeiten unserer Geschichte entziehen sich der Schrift.

Sie hinterlässt keine verbindliche Spur“, meint Namik.

„Jene die über uns befinden, sprechen unsere Sprache ohnehin nicht!“

Er schaut mir in die Augen. „Machen wir weiter!“

Namik weiht mich in die unterschiedlichen Schriftbilder der islamischen Typographie ein.
Ich habe das Manuskript meines Buches in Wien überarbeitet.

Im Herzen des jüdischen Bezirks in einem Kaffee, das Narine,

eine Armenierin mit ihrem Bruder führt.

Nach Beirut schien mir Wien geradezu naheliegend.

Es ist zwar nicht dasselbe, unter einem bestimmten Gesichtspunkt

und in einem gewissen Sinn aber das Gleiche.

Kaffeehäuser sind das Minimal einer möglichen Heimat.

Wer an der Magie des gesunden Menschenverstandes zweifelt,

sollte Kaffeehäuser aufsuchen und sein hehres Ich an der Garderobe abgeben.
Nathan sitzt immer am selben Tisch im hinteren Teil des Raumes.

Er will mit seiner Masterarbeit über die Diaspora endlich zu einem Ende kommen.

„Kann uns die Schrift einen Ursprung zusichern?“ frage ich.

„Sollen wir uns auf die Spur einlassen oder die Geschichte endlich verlassen?“ 

Nathan bläst den Rauch seiner Zigarette in die Luft.

„Dahin gehören wir“, meint er „aber wir gehören nicht dazu.“

Ist die Geschichte ein Hort der Hoffnung? Gibt es ein Zurück?

Ernst Cassirer hat uns doch liebevoll ans Herz gelegt,

unsere symbolischen Systeme unter die Lupe zu nehmen

und deren Formen allenfalls über Bord zu werfen.

Aber auch das steht in einem Buch, das praktisch niemand gelesen hat.

Vielleicht ist es an der Zeit, das Ich über seinen Schatten aufzuklären.
Eine meiner Lieblingsschriftstellerinnen Nathalie Sarraute schrieb meistens in einem Kaffee,

wo Rauchen noch dazugehörte. "Hier" heisst eines ihrer letzten Bücher.

Als junger Mann sass ich in Paris oft an einem der Nebentische.

Zuschauen ist aller Anfang. Wir lernen vieles mimetisch.

Nomaden aber haben kein Vorbild: sie sind kein Zitat.


    
Satzspiegel
Es gibt im Paradies keinen Grund, mit Schreiben anzufangen,

weil der Baum und die Erkenntnis vollkommen identisch sind.

Aber zum Nomaden, der aus dem Paradies vertrieben worden ist, passt es auch nicht.

Schreiben setzt Sesshaftigkeit voraus.

Ich sitze an einem Tisch und schreibe über alles andere,

was mir die Einbildung vorspiegelt und die Inspiration vorschreibt.
Ich schreibe nicht: „Ich sitze an einem Tisch und schreibe diesen Satz.“

Wenn er dasteht, ist auch er bereits etwas anderes als das Sitzen und Schreiben selbst.

Die Distanz, die meine Augen von allem trennt, was mich umgibt,

schreibt sich zwischen den Zeilen gleichzeitig ein.
Es schreibt ohnehin an meiner Stelle, weil die Spur zu Papier bringt,

was mich umtreibt und antreibt.

Auch wenn zuweilen das Schreiben Einfälle antizipieren mag,

oder die Fiktion futuristische Züge annimmt,

es ist auf die Erinnerung angewiesen. Der Gestus bleibt der Vergangenheit verpflichtet.
Ich finde nur, was ich suche. Ich male mir das Geschehen aus.

Ich denke und fühle mich in Personen leibhaftig hinein.

Ich erkenne, was fehlt. Die Kohärenz der Erzählspur ist ein Konstrukt,

das unter meiner Hand an meiner Stelle entsteht.

Das Leben hält sich über dem Text und im Text auf. Das Schreiben diktiert, was es zu tun gibt,

aber mit dem Schreiben ist es nicht getan. Jeder Satz ein Ersatz.
Der Aufschub, von dem Jacques Derrida zeitlebens sprach,

liegt im Moment der Aufzeichnung selbst.

Im Nachhinein folgen wir der Erzählspur mit dem Jad und unterstreichen,

was uns etwas bedeutet. Das Ich ist ein Palimpsest.

Wenn alle Schichten abgekratzt sind, bleibt ein unbeschriebenes Blatt – an meiner Stelle.



Ich habe genug
Mit dieser Doppeldeutigkeit ist eine Kantate von Johann Sebastian Bach überschrieben.

Sie begleitet mich seit meiner Kindheit. Ja, ich hatte genug.

Genug zu essen, genug zu leben.

An Verfügbarkeiten und Verführungen fehlte es nicht.

Es standen mir keine nennenswerten Widerstände im Wege ausser jenem Brett,

das ich selbst vor dem Kopf habe.
Ja, ich hatte genug. Genug, beweisen zu müssen, dass es (m)ich gibt.

Genug, bezeichnet, ausgezeichnet oder aufgezeichnet zu werden.

Genug, Formulare auszufüllen und veraltete Formen zu erfüllen.

Genug, in jedem Augenblick selbstbewusst eine Entscheidung zu treffen.

Genug, mich anweisen, abweisen, hinweisen, einweisen oder zurechtweisen zu lassen.

Genug nachzuweisen, dass der grammatikalische Singular die Singularität immer verpasst,

ein Haus nicht das Haus, ein Mensch nicht der Mensch ist.
Genug mich zu beschreiben, einzuschreiben oder mir gar vorschreiben zu lassen,

was ich unter der Schutzherrschaft der political correctness zu denken habe.

Genug, abzuklären und aufzuklären.

Genug, den etymologischen Zusammenhang zwischen Gewalt und Verwaltung nachzuweisen.

Genug, dagegen oder dafür zu sein. Genug, abzubrechen und aufzubrechen.
Genug von Intellektuellen, die Schreiben mit Schreien verwechseln.

Genug, zu begreifen und das Wort zu ergreifen. Genug, zu reden oder zu schweigen.

Genug ist genug. Ich hatte genug, genug zu haben. Damit bin ich wahrlich nicht allein.

Ist genug schon alles? Ich erinnere mich an ein Fries im Burgund:

Die Köpfe der Schriftgelehrten neben einer Kreuzigungsszene fehlen,

ja, sie haben mit der Zeit den Kopf verloren.
    
Auf dem Weg

Sesshaft war ich nie; es sah nur so aus. Ich war immer getrieben oder aufgebracht.

So weit ich mich erinnern kann, war es immer so: zum Davonlaufen.

Seit ich gehen kann, bin ich auf dem Sprung, ungeduldig ausser mir:

Wo und wann beginnt endlich die Zukunft?
Ich predige den Nomadismus nicht wie französische Intellektuelle

aus betuchtem Hause in besseren Vierteln. Ich rufe keine Bewegung ins Leben.

„Kein Wort mehr“, muss sich mein älterer Bruder Arthur Rimbaud gesagt haben,

nachdem er die Klaviatur der Vokale in allen Farben bespielt hatte.
Er brach auf, liess das Fangnetz der Interpretationen und das Fanal des Diskurses hinter sich.

Die Versuche, seine heimliche Route durch die Wüste nachzuzeichnen, sind gescheitert.

Das Geheimnis liegt in den Lücken.
Ich könnte die Stationen meines Weges auch nicht aufzählen, schön der Reihe nach.

Ich führe kein Tagebuch. Einzig meine Kreditkarte gibt über den Verlauf

meiner Aufenthaltsorte Auskunft. Ich erinnere mich nicht. Ich habe nichts zu vergessen.

„Ich denke, also bin ich.“ Das war einmal.

Ich habe keine Pläne und keine Projekte.

Ich habe keine Vorsätze. Und damit bleiben die Nachsätze aus.

Immer fehlt etwas
Mit der „Melancholie der Vollendung“, von der Walter Benjamin spricht,

geht die Erkenntnis einher, dass immer etwas fehlt.

Das gilt auch für die Bedürfnispyramide von Abraham Maslow.

Sie nimmt sich wie eine Creme-Schnitte aus.

Ist mit der obersten Schicht der Formwunsch eines Lebens-Entwurfes erfüllt?

Oder hält sich die Wunschform wie der Atem Gottes, so es ihn gäbe,

über dem Tohu-va-Bohu weiterhin auf?

Nachdem meine Grundbedürfnisse gestillt sind, der soziale Rückhalt gesichert,

die Selbstbehauptung bestätigt ist, habe ich damit mein Ziel erreicht?
Immer fehlt (noch) etwas. Immer bleibt etwas zu tun, etwas zu haben,

jemand zu sein oder zu werden. Braucht die Motivation ein besonderes Motiv,

eine Mission, eine Botschaft? Selbst-Verwirklichung geht nicht wie ein Blätterteig auf.
Reise ich mir nach oder flüchte ich vor meinem Selbst?

Kann ich tatsächlich auf etwas hinarbeiten,

das sich irgendwann und irgendwo als dieses Selbst erweist,

das ich mir vorgenommen habe?

Wie aber könnte ich diesem Selbst begegnen, wenn ich mir davon kein Bild machen kann?
    
Aus den Augen aus dem Sinn
Ich schaue Welt und Bild, den Menschen und Dingen nach.

Ich nehme zur Kenntnis, was mich umgibt. Ich beobachte.

Ich beobachte die Anderen. Ich beobachte mich selbst.

Ich werde beobachtet, also bin ich.

Ich bin einer, der als jemand zur Kenntnis genommen wird.
Ich bin mir selbst vermittelt. Ich bin eine wandelnde Schnittmenge.

Ich erkenne mich in den Augen der Anderen und im Spiegel meiner selbst.

Weiss ich damit, wer ich bin?

Ich sehe ein, dass ich selbst der Nachlass meiner Wahrnehmung bin.
Ich spiele gleichzeitig das Subjekt, das den Beobachterstandpunkt einnimmt,

und das Objekt, das sich als mein Bild zu erkennen gibt.

Ich habe den Eindruck, der zu sein, den ich wahrnehme.

Ich habe diesen Eindruck, aber bin ich ihn auch? Nomade sein heisst niemand werden.
Ich vereinbare die Eindrücke meiner selbst mit den Eindrücken der Anderen.

Wenn ich beim Rasieren in den Spiegel blicke, geht es nicht um mich, sondern um den Bart.

Der wächst nach wie ein Selbstbildnis, das mit einem klaren Schnitt

des Rasiermessers wieder entfernt werden kann.
Als Nomade komme ich mir abhanden. Ich verliere mich selbst aus den Augen.

Ich entfalle der Beobachtung meiner selbst, weil niemand von mir erwartet, jemand zu sein.

Obschon mich die Menschen an einem Ort bald wiedererkennen,

wird der Eindruck in mir nicht sesshaft. Was sie sich gemerkt haben, weiss ich nicht.

In Beirut war ich „the poet of Hamra.“ Die Zuordnung entspricht einem Vornamen, Shaeir!

Den trug ich ein paar Wochen lang wie ein zweites Antlitz.

Aber mit dem Bart war er wieder weg.
Kinder meinen zuweilen, wenn sie die Hände vor ihr Gesicht halten, sie würden nicht gesehen.

Das trifft in jenem Augenblick tatsächlich zu, da ich mich selbst der Beobachtung entziehe.

Ich vergesse, wer ich bin, weil es genügt, da zu sein. Es gibt von mir keine Selfies.
Ich spiele gern den ungläubigen Thomas. Der blinde Fleck reist mit. Der Nomade bin nicht ich.

Es ist die Wahrnehmung, die mich bei der Hand nimmt.

Sie ist meinem Denken um eine Nasenlänge voraus.

Meine Aufmerksamkeit ist auf alles gefasst, was kommt – ausser mir selbst.

 

2. Ohne mich

Haltestelle Augenblick

Kein Mensch kann seine Augen gleichzeitig an derselben Stelle haben wie ein Anderer.

Die Standpunkte sind und bleiben körperlich verschieden.

„Komm, schau nur, ich zeige Dir“: Die Geste ist uns auf den Leib geschrieben.

Sie entspringt dem ausdrücklichen Wunsch, etwas zu teilen und mitzuteilen.

Ich weiche von der Stelle, damit der Andere, die Andere meinen Standpunkt einnehmen kann.

In diesem kleinen Schritt zur Seite liegt der Ursprung der Differenz.

Durch meinen Seitensprung nehme ich gleichzeitig einen noch anderen Standpunkt ein.

Mit einem Satz bin ich ein Anderer.
Wenn ich mit einem Menschen Bekanntschaft schliesse, der sich an Ort auskennt,

will er mir meistens Sehenswürdigkeiten zeigen.

Die Ausflüge führen zwingend in die Vergangenheit, zu altem Gestein,

falls das eine noch auf dem anderen steht.

Gemeinsam bewundern wir Spuren, die bis auf den heutigen Tag beweisen sollen,

dass der Mensch zu allem fähig ist.

Spricht die tote Materie noch zu mir? Kann ich sie sinnfällig beleben?  
Mit Sarah sitze ich im Sand in der Bucht von Douglas auf der Isle of Man.

Hier hat Kurt Schwitters1941 einige Monate im Internierungslager von Hutchinson verbracht.

Er malte das Portrait von Fred Uhlmann und verfolgte sein Ideal der Merz-Bauten

mit versifftem Holz aus dem Meer.
Ich gehe den Strand entlang und folge seinen Spuren.

Vor seinem Tod soll er in Nordengland an einer lokalen Ausstellung teilgenommen

und ein, zwei Bilder verkauft haben.

Zu „Wantee“, seiner Geliebten soll er mit einem Augenzwinkern gesagt haben:

„Siehst du, nun bin ich ein anerkannter Maler geworden.“

Dass die Vergangenheit noch etwas bedeutet, beruht auf Empathie und Seelenverwandtschaft

–  in der augenblicklichen Vergegenwärtigung.

Seitenwechsel
Die Aufklärung findet in Bussen statt. Da treffen die Gegensätze hautnah aufeinander.

Die Einheit der Sprache ist eine Chimäre.

Der Dialekt von Manchester ist mit dem Slang von Liverpool nicht zu vergleichen,

von den Fussball-Mannschaften ganz zu schweigen.

Erhellend ist es, in Sprachen heimisch zu werden, die ich auf Anhieb nicht verstehe.

In Oostende, wo ich mir ein paar Brocken flämisch angeeignet habe,

wurde meine Aussprache in jeder Kneipe aufs Neue korrigiert.
Manchmal genügt es, eine Strasse zu Fuss zu überqueren,

um in einer andern Welt anzukommen.

In den alten phönizischen Mauern von Batrun im Libanon feiern die Orthodoxen

ihre Liturgie in einem Tempel am Meer. Wenn ich die Hauptstrasse überquere,

befinde ich mich inmitten streng gläubiger Muslime.
Wenn ich in Nürnberg hinter dem Bahnhof flaniere,

werde ich zum Shisha-Rauchen eingeladen.

In der Altstadt dagegen empfängt mich die Kellnerin im Dirndl.
In seinem Buch Herr Moses in Berlin empfiehlt der Autor Heinz Knobloch,

den Politikern und Politikerinnen zu Weihnachten Fahrkarten zu schenken.

Dem Reden muss doch Sehen an Ort vorausgehen, würde ich meinen.

    
Von Haus aus
Oft wird Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil

mit dem Begriff des Möglichkeitssinns gleichgesetzt.

Auf Seite 16 des ersten Bandes steht:

„So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles,

was ebensogut sein könnte, zu denken und das,

was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist."
Die Schweiz, die ich meine, hat mir uneingeschränkte Möglichkeiten eingeräumt

bis hin zu dieser freien Entscheidung, aufzubrechen

und ihr im eigentlichen Sinne des Wortes den Rücken zu kehren.

Die Schweiz stimmt mit einer Empfindung der Freundschaft überein,

wenn ich in ihrer Nähe bin. Wir sehen uns selten, aber ich stelle die Form

unserer Beziehung nicht in Frage. Wir kennen uns vom Hörensagen und wissen

selbstverständlich umeinander. Dazu gibt es nichts zu sagen.
Der Möglichkeitswahn aber lässt die Bedingungen aussen vor.

Jede Autobiographie ist ein Ausschluss von Möglichkeiten.

Nomade zu werden, bedeutet ganz einfach, nicht mehr sesshaft sein zu wollen.

Indem ich diese Möglichkeit tatsächlich ergreife, bin ich vor neue Bedingungen gestellt.
Mit Befremden stelle ich fest, dass ich mir um die Schweiz nie Sorgen mache.

Der lebenswerte Durchschnitt entsteht aus einer unermüdlichen Vermittlung

zwischen Wille und Vorstellung. Darauf verlasse ich mich.

Die Schweiz und ich gehören zwar nicht unbedingt zusammen,

aber wir sind einander verbunden.
Wenn ich alles wegdenke, was meine Annahmen bestimmt,

„gibt es“, schreibt Emmanuel Lévinas.

„Es gibt die Schweiz“, aber ich weiss letztlich nicht, was sie ist.

Sie kommt ohne Zusicherung des Seins aus.

„Je pense donc je suisse“. Ben Vautier bringt es mit Humor auf den Punkt.
 Jüngst habe ich die Gegend des Vierwaldstättersees entdeckt

wie Candide von Voltaire das Eldorado.

Ich wurde an jedem Stammtisch, an dem noch geraucht werden darf, herzlich aufgenommen.

„Heraus mit der Sprache: Sag, was Du denkst!“

Das oral-gestische Ritual des Wortwechsels wird die Langsamkeit der Schrift überleben.

Die Authentizität misst sich am Augenblick: im gegenseitigen Blick in die Augen.

Krieg und Frieden
Um den Libanon mache ich mir täglich Sorgen, etwas so wie meine geliebte Oma um mich,

als ich in Paris lebte. Jeden Tag werfe ich einen Blick auf diesen Landstrich,

um zu wissen, „wie es geht“.

Odile El Khouri, die mich an die Universität der Maroniten eingeladen hat, lacht mich aus.

„Nichts Neues unter der Sonne.“ Es war doch schon immer so.

Es gibt Menschen, die sich an den wechselhaften Zustand des Krieges gewöhnen.
Sorgen mache ich mir auch um Frankreich, ein Land,

das mir als junger Mann Heimat bedeutete.

Im Libanon habe ich gelernt, dass es eine Wahrheit

für den Tag und eine Wahrheit für die Nacht gibt.

In Frankreich scheinen sich die Menschen etwas vorzumachen

und aneinander vorbeizureden, Tag und Nacht.

Elisabeth Lévy, die Chefredakteurin von Causeur

spricht von einer „guerre idéologique“, einem Krieg,

in dem jedes Wort zu einer Schlagkeule wird. Kommt Heimat ohne Feindbild aus?
Freunde in Frankreich meinen immer noch, es genüge 1968 zu wiederholen

und auf die Strasse zu gehen, um in der Zukunft anzukommen.

Jene aber, die schon auf der Strasse leben, werden nach Hause geschickt,

obschon sie kein Dach über dem Kopf haben.
Heimat ist, was man daraus macht. Satz um Satz.

Vielleicht ist Heimat, woran ich mich erinnere.

Vielleicht ist Heimat, was ich zu verlieren fürchte.

Vielleicht ist Heimat da, wo ich in Ruhe gelassen werde.

Vielleicht ist Heimat da, wo sich Reden und Schreiben erübrigt.



Aus der Ferne
Aufgebrochen war ich schon einmal. In den 70er Jahren zog es mich nach Paris.

Gemeint war wahrscheinlich nicht die Stadt, sondern die Geburtsstätte des Diskurses.

Ich hatte das Glück, mit einem Stipendium des französischen Staates

an der renommierten Ecole des Hautes Etudes en Scienes Sociales Semiotik zu studieren

– bei Algirdas Julien Greimas, einem begnadeten Denker aus Litauen.
Roland Barthes erkannte ich manchmal nach den Seminaren nachts im Palace,

einem ehemaligen Boulevardtheater, das von Fabrice Emaer als Club

für die „oiseaux de nuit“ wiederbelebt wurde.

Jacques Lacan empfing zu einer Sitzung zuweilen auch in einem Café,

rue Monsieur-le-Prince und nicht nur im Collège de France.

Michel Foucault war am Schreiben an seiner enzyklopädischen „Histoire de la sexualité“.

„Ich war dabei“ – und nicht nur zur Eröffnung des Centre Georges-Pompidou,

diesem urbanen Denkmal von Renzo Piano, Richard Rogers und Gianfranco Franchini.
„Que reste-t-il de nos amours?“, singt Charles Trenet.

In der Tat: Was bleibt von dieser Liebe zum Text, von der Lust am Diskurs?

Ausser meinem Eindruck, ihrem Werden und Vergehen beigewohnt zu haben?
Meine Generation ist von der Idealvorstellung eines Zentrums, einer City geprägt.

Die Metropole stellte den Fluchtpunkt aller futuristischen Perspektiven in Aussicht:

das Risiko zur Grenzüberschreitung, die Leuchtkugel zur Party,

den Nabel, um den sich alles dreht . Wohin gehören Vorstädte?

Aus der Nähe
Ich habe in der Tat geglaubt, wir könnten Offenheit und Neugier herbeireden,

die Vergangenheit bis zur Erschöpfung ausschreiben und das Glück grossschreiben.

Wir würden alle Prägungen unserer Herkunft hinter uns lassen,

das Schicksal links überholen und bei uns selbst ankommen.

Niemals hätte ich gedacht, wir würden nach diesen Jahren

eines viel versprechenden Aufbruchs je wieder über Religion oder Sexualität,

über Herkunft und Zugehörigkeit streiten. Ich dachte, mit dem Schreiben sei es getan.
Weit gefehlt! Gespräche mit vornehmlich jungen Menschen an einer Haltestelle,

im Bus, auf einer Terrasse oder am Strand ergeben ein anderes Bild.

Können Metropolen als ehemalige Schnittstellen zwischen lokaler Verortung

und globaler Vernetzung noch ein Anziehungspunkt sein?

Stellen sie Perspektiven in Aussicht, die uns lebenswert erscheinen?

Sagt uns das Wort Projekt noch etwas?

Halten die Träume, die sich mit dem Mythos

von Paris, Berlin, London oder New York verbinden,

der Wirklichkeit noch Stand?

Enden die Visionen in einer Retrospektive im Museum am Zentralplatz?

Und wohin mit Gott auf dieser Welt?
"So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier.“

Mit diesem Satz beginnen die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge

von Rainer Maria Rilke vor der Notre-Dame mitten in Paris,

wohlgemerkt zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Sackgasse
Keiner Ideologie über den Weg zu trauen, macht noch keine Résistance.

Gegen den Hoheitsanspruch des vorherrschenden Diskurses sind Worte machtlos.

Die fortschreitende Sinnentleerung der semantischen Tiefenschärfe

reduziert den Schlagabtausch der Rede auf eine binäre Matrix.

Wo heute einer dafür ist, ist morgen eine dagegen.

Vorwürfe übertönen die Vorläufigkeit der möglichen Entwürfe.
Hat der Diskurs das unmittelbare Dasein in die Diaspora entlassen?

Für die Simultaneität und die Ubiquität unseres körperlichen Empfindens

bleibt jeder Diskurs an Land, gefangen in einem Referenzsystem,

das unserem Habitus nicht mehr entspricht.
Die (heiligen) Schriften sind Formen der Selbstermächtigung,

die vorschreiben mit beschreiben verwechseln.

Geschrieben und geredet wird ununterbrochen anstelle eines Anderen,

im Namen einer Anderen, die sich im trüben Fluss der Rede nicht wiedererkennen.

Sprache und Spur verlaufen im Sand, sobald sie verbindlich und verständlich

von einem Rundum der Verallgemeinerung zur Unverwechselbarkeit

des Einzelfalls übergehen soll.
Schrift und Sprache entziehen sich als Mittel der Darstellung

genau jenem Anspruch, den sie unermüdlich beschwören:

dem kritischen Bewusstsein und der Selbst-Erkenntnis.
Die Haltestelle nach Plan ist keine Haltestelle in Wirklichkeit:

Was für  Busse im Libanon gilt, trifft auf den Diskurs und die kartographische Tradition auch zu.

Der Plan ist eine geometrische Abstraktion.

Die Fakten der vorherrschenden Rede sind eine Fiktion.

Was in der Zeitung steht, ist Schnee von gestern.

Die Grenzen des Diskurses liegen offen. Mauern und Zäune werden es nicht richten.



Weichbild
Nabokov jagte Schmetterlingen und einer Lolita nach. Was suche ich?

Das Chamäleon, den Janus unter Menschen?

Will ich wie Alice im Wunderland den Quantensprung in die vierte Dimension schaffen?

Will ich in der Unschärfe von Werner Heisenberg untertauchen.

Will ich im Niemandsland um Asyl bitten?

Will ich das Ende aller Metaphern herbeischreiben? In der Diaspora als Nomade?
Heimat ist, wenn man weit weg ist. Die Metapher der Zerstreuung,

die der Diaspora zugrunde liegt, ist der Natur entlehnt.

Sie setzt voraus, dass es einen Ursprung gibt, einen Ort, von dem alles ausgeht.

Wo aber befindet sich das Original dieser Metapher? In den Sternen?

In einem schwarzen Loch? In einem Buch? Vom Winde verweht sind wir.
Wer geboren wird, wird ausgestossen oder durch einen Schnitt entnommen.

Einen anderen Anfang gibt es für niemanden.

Das bedeutet nicht, dass wir mit offenen Armen empfangen und aufgenommen würden.

Denn auch die Wurzeln, von denen auf der ganzen Welt die Rede ist,

entsprechen  einer künstlichen Vernatürlichung des Daseins.

Wir werden domestiziert und naturalisiert.

Wer den Hauptstrassen folgt, passt sich an, wird abgeklärt und therapiert.

Damit kommen wir auf die Welt als das, was von uns erwartet wird.
Die Sesshaftigkeit ist an die Anerkennung von Grenzen gebunden.

Sie beginnen vor der eigenen Nase, auf der Schwelle der Haustüre,

am Zaun zu Nachbars Garten.

Sie enden bei Gott und der Welt in ontologischem Dünkel und metaphysischem Dunkel.

Bekannte Unbekannte

Ist Heimat jene Haut, aus der ich nicht muss oder kann?

Ist Heimat ein Umfeld, in dem ich keine Angst zu haben brauche?

Ist Heimat jene Insel, auf die ich ein Buch mitnehme?

Ist Heimat ein traumhafter Strand, von dem ich nie wieder vertrieben werde?

Unterwegs nehme ich Fogendes wahr und stelle annähernd fest:

 

1. Es gibt unter uns Menschen, die an einem Ort weilen und da auch bleiben wollen.
     - Aus Liebe oder Anhänglichkeit?
     - Aus (ökonomischer) Notwendigkeit?
     - Aus Bequemlichkeit?
- ...

    1.1. Vielleicht waren diese Menschen seit ihrer Geburt da.
        1.1.1. War das für ihre Ahnen auch so?
        1.1.2. Gibt es astreine Genealogien über Generationen hinweg?
        1.1.3. Kommen Seitensprünge vor?
        1.1.4. Was ist mit den Kuckuckskindern
                    und den Leichen im Keller?
        1.1.5. ...
    1.2. Vielleicht kamen andere Menschen von irgendwoher und haben hier Fuss gefasst.
        1.2.1.Von Anderswo-herkommen kann heissen:

                    Aus dem Nachbardorf, aus der Vorstadt, vom Land, aus der Provinz,

                    aus der Hauptstadt, aus dem Osten, aus dem Westen, aus dem Süden,             

                    aus dem Norden, vom anderen Ufer, von einem anderen Stern...
    1.3. Vielleicht bleiben sie allen Widerwärtigkeiten zum Trotz,
    weil sie der Überzeugung sind, ihr Platz auf dieser Erde sei genau hier.
    1.4. ...

 

2. Es gibt unter uns Menschen, die nur eines im Kopf haben: Auf und davon!
    2.1. Sie wagen den Sprung und nehmen an einem anderen Ort ihr Leben in die Hand.
    2.2. Oder sie bleiben, wo sie sind und immer waren,

             in den parallelenSphären ihrer Sehnsucht, die zeitlebens unerfüllt bleibt.

             Sie gehört zu Ihnen.
    2.3. ...

 

3. Es gibt unter uns Menschen, denen folgende Möglichkeiten verwehrt bleiben:
    3.1. Sie wollen weg –  und können nicht.
    3.2. Sie wollen dahin zurück, woher sie zu kommen glauben – und können nicht.
    3.3. ...
4. ...

 

1965 singen die Beatles: “He's a real nowhere man / Sitting in his nowhere land / Making all his nowhere plans for nobody / Doesn't have a point of view / Knows not where he's going to / Isn't he a bit like you and me? / Nowhere man please listen / You don't know what you're missing / Nowhere man, the world is at your command / He's as blind as he can be / Just sees what he wants to see / Nowhere man, can you see me at all / Nowhere man don't worry / Take your time, don't hurry / Leave it all till somebody else / Lends you a hand.”…
    
Vermisstmeldung
Die vorliegende Typologie ist ein erster Versuch, ein Dasein zu umschreiben,

das sich in seiner Vielfältigkeit der gängigen Nomenklatura verweigert.

Eins und eins gibt bekanntlich wieder eins, wenn es keine Zwillinge sind.

Es handelt sich um ein Drittes, das sich nicht auf eine einfache Synthese reduzieren lässt.

Wir sagen zwar nicht, dass der Vater seinem Sohn gleicht.

Aber das kann ja noch kommen, wenn wir die logisch-kausale Herleitung auf den Kopf stellen.

Die Rückführung auf einen Ursprung ist nur eine Gangart der Anschauung.

Die Abstammung hat keine Zukunft mehr.

Wo die einen sich auf ihre Mutter berufen, rufen die anderen ihren Vater an.

Noch andere haben zwei Nationalitäten oder einen gefälschten Pass.

Das Entweder-oder hat dem Sowohl-als-auch den Vortritt zu lassen.

Jede und jeder von uns hat mindestens zwei Geschichten.
„Sono meta-meta“, sagt Francesca in Menaggio,

„ich will weder zu den einen noch zu den anderen gehören, ich gehe meinen Weg!“

Auf einer Terrasse in Oostende sagt Amélie:

„Ich bin ein Viertel Belgierin, aber ich bleibe Flämin!“

Sind Nationen eine Schuhgrösse, der wir längst entwachsen sind?

Nirgends mehr
Ungeachtet aller Differenzen, die die oben genannten Heterotopien

in (T)Räumen und (W)orten auszeichnen,

bildet sich in vielen Gesprächen ein gemeinsames Drittes heraus:

das volkommene Unbehagen.

Obdachlos werden wir auch dann, wenn der ideologische Überbau,

die religiösen Zusicherungen, die politische Anlehnung,

die nationale Eingebundenheit und regionale Vertrautheit versagen.

Im Exil können wir allemal zuhause sein.
Welt und Bild, Wohl und Befinden, Wort und Brauch

finden keine Zustimmung, keine Übereinstimmung mehr.

Wir erleben die Grenzen unserer Vorstellungen und Darstellungen hautnah.

Die herkömmlichen Referenz- und Repräsentationssysteme

lassen uns schmählich im Stich. Kennt sich das Ich auf dieser Welt noch aus?

Findet es sich im Neuland zurecht? Das Ich ist dem Selbst keine Zuflucht mehr.

Es erkennt sich einzig als Bündel offener Fragen:

Ist die eigene Identität mehr als die Behauptung ihrer Differenz?

Damit kommen wir nicht über die Grenzen.

Einmal ist keinmal
In seiner Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache

schreibt Ludwik Fleck: ...„Ein schlechter Beobachter, wer nicht bemerkt,

wie ein anregendes Gespräch zweier Personen bald den Zustand herbeiführt,

dass jede von ihnen Gedanken äussert, die sie allein oder in anderer Gesellschaft

nicht zu produzieren imstande wäre.

Eine besondere Stimmung stellt sich ein, der keiner der Teilnehmer sonst habhaft wird,

die aber fast immer wiederkehrt, so oft beide Personen zusammenkommen.

Längere Dauer dieses Zustandes erzeugt aus gemeinsamem Verständnis

und gegenseitigen Missverständnissen ein Denkgebilde,

das keinem der zwei angehört, aber durchaus nicht sinnlos ist.

Wer ist sein Träger oder Verfasser?“...
Ich habe das Wort, ich bin es aber nicht.

Ich habe das Glück, mit vielen Menschen zu reden.

Miteinander reden ist mehr als reden.

Der gegenseitige und gleichzeitige Austausch mit Anderen übertrifft

alle Lieblosigkeiten der Veranstaltungen, die Belanglosigkeiten von Podiumsdiskussionen

und die Redundanzen aller Kongresse, an den ich zeitlebens teilgenommen habe.
Bei vorgerückter Stunde überschreitet der Wortwechsel nämlich eine Grenze,

hinter die es kein Zurück mehr gibt: Keine Heimkehr an die Stätte des Ursprungs,

keine kindlichen Anlehnungen an die überlieferten Kategorien und Kriterien.

Ein Vorwärts oder eine Ankunft stellt sich jedoch noch nicht ein.

Auch der Orient hat die Orientierung verloren.

„Middle East is evrywhere“, sagt Abdel in einem Kaffee am Alexanderplatz.
„No religion, no nation!“ Mein Mantra steht mir ins Gesicht geschrieben.

Es ist mir anzusehen wie Wind und Wetter, die meine Züge gezeichnet haben.

Dieses Mantra beschränkt sich derzeit noch auf eine Verneinung.

Was wir nicht mehr wollen, scheint überall weitgehend klar zu sein.

Im Gespräch bekennt es offenherzig Farbe.

Wenn wir uns eine Nacht lang den Kopf wund geredet haben,

steht am frühen Morgen gleichwohl das alte Fahrrad vor der Tür.

Und mit ihm die Grenzen unserer Vorstellungen, unserer Darstellungen,

unserer Beziehungen und die Verpflichtungen des Alltags.

Da werden wir mit Haut und Haar erwartet.

Unsere Angehörigen und die sozialen Vernetzungen begrüssen uns als jene,

die wir gestern waren.

„Hoffen, Glauben, Lieben“: Auf den Erbstücken der Möbel setzt sich immer Staub ab.

Weg damit!

 


Hin und zurück
„Voraussehen ist nicht erklären“,

schreibt der Erfinder der Katastrophentheorie René Thom.

Eindrücklich weist er nach, dass die gebräuchlichen Orientierungssysteme

für die Dimensionen unserer Vorstellungen keine Herberge mehr sind.

Das gilt allein schon für die klassische Geometrie.

Nur wo es einen Kreis gibt, gibt es die Peripherie.

Nur wo es eine Mitte gibt, gibt es Aussenseiter, links und rechts, oben und unten.

Nur wo es ein Dreieck gibt, gibt es eine Spitze.

Einzig die Ellipse ist dynamisch nach allen Seiten.

Sie hat zwei Brennpunkte, die das Perpetuum mobile beleben

und die Spannung am Leben erhalten. In der Mitte ist kein Bleiben.
„Woher kommst Du?“ Die Frage steht fest, sie sitzt.

Ich befinde mich auf der Stelle in Untersuchungshaft.

Sie zwingt mich, an den Tatort eines vermeintlichen Ursprungs zurückzukehren.

„Wohin gehen wir?“ Ich atme auf,

auch wenn ich darauf keine abschliessende Antwort geben kann.

Der Horizont klärt sich auf.

Vor dem inneren Auge nehmen mögliche Perspektiven Form an.
Das Wissen jedoch führt auf direktem Wege in eine umnebelte Vergangenheit.

Es umstellt den Bick. Ich finde zu meiner heutigen Bleibe mit geschlossenen Augen zurück.

Das ist noch keine wegweisende Erkenntnis für die Zukunft.

In Bewegung
Ist das Leben ein Haftbefehl? Folgt es einem Plan?

Und woher kommt unser Verlangen nach Halt, nach Anhänglichkeit und Gefolgschaft?

Dass ich eines Tages aufbrechen würde, habe ich selber nicht vorausgesehen.
Vielleicht ist der Ursprung der Heimatlosigkeit und Zerstreuung im Trieb zu suchen.

Er geht den Wurzeln voraus und gleichzeitig aus dem Stamm hervor.

Sexus hält sich in seiner augenblicklichen Belebung – ungeachtet der Neigungen –

in der Diaspora auf. Die sexuelle (Neu)gier bleibt rastlos und entlässt mich ratlos.

Wenn auf der Schwelle der Knoten der Krawatte wieder sitzt,

finde ich mich dann in der Umhaut meines angestammten Ichs wieder zurecht?

Und jetzt? Wohin damit? Geht es vorwärts oder zurück in die vertrauten Arme?

Bleibt es bei der gewohnten Stellung unter einem Dach?
Zwischen den Beinen und hinter den Wölbungen der Stirn beginnt die Diaspora,

auch wenn das treue Herz am rechten Fleck verweilen mag.

Jedes Kommen ist ein Gehen. Jedes Gehenlassen ist ein Ankommen auf Zeit.

Das Ende ist erst der Anfang. Heimat ist, wo das Herz ist.

Macht das Hirn derweil Urlaub an der Sonne?
Wenn Eros seine Pfeile abschiesst, sucht der Kopf seine Heimat vergeblich.

Was sage ich – hinter dem Bahnhof in Nürnberg –  Leyla, einer bildschönen Türkin,

die ein Türke werden will? Welche Unterkunft biete ich Amir an,

der aus seiner Familie ausgestossen wurde, weil er Männer liebt?

„Was weiss ich schon?“  Ich kenne meine eigenen Grenzen aus Erfahrung:

Ich halte mich sexuell für bedeutungslos.

Ist Heimat die Seele, die irgendwann zuhause ankommt?
Identität kann nicht mehr sein als ein mögliches Selbst-Verständnis.

Auf Zeit und an Ort. Es heisst ausdrücklich Face-Book!

Was zählt und erzählt, ist das Gesicht.

Das Leben wird mir ins Gesicht geschrieben.

Figur und Grund sagen im Anblick des Gesichtes das Gleiche.

Einzig dem Gesicht ist die vollkommene Entblössung oder Offenbarung

der Identität zuzugestehen. Es handelt sich um die Urerfahrung der Nacktheit,

die jede und jeder von uns bei einem Blinddate

oder auf erregendem Beutefang schon gemacht hat.

Ist dabei, was wir als Netz bedienen, nicht die Agora der Diaspora?

Es gibt heute mehr Bilder als Menschen, mehr Bilder von Menschen –

und keines entspricht dem Menschen als solchem oder seinem Selbst.

Das Individuum als autonome oder atomare Hutgrösse passt

nicht mehr auf den Kopf und in den Kopf.

Wer noch eine Identität hat, trete als Ich vor – und werfe den ersten Stein.

Damit ist es mit dem Schreiben auf der Stelle getan.

Wortlos bleibe ich Raucher unter freiem Himmel.